Peter Kiesel 



Peter, lateinisch Petrus: der Fels

 

Aniflur zieht die Schuhe an und will in den Garten gehen. aber etwas stimmt nicht mit dem linken Schuh. Etwas sticht und drückt. Sie zieht ihn wieder aus und dreht ihn um. Ein Stein fällt heraus. Er ist schwarz und grau und weiss.

Woher kommst denn du, fragt sie den Stein. 

• Das ist eine lange Geschichte, aber ich bin in deinen Schuh geschlüpft, als du am Bach gewesen bist.

Warum hast du mich in den Fuss gepickst?

• Ich kann nichts dafür. Ich bin eben hart, Steine sind hart. Steinhart. 

Ich bin Aniflur und wie heisst du?

• Peter Kiesel.

Mit wem sprichst du, fragt Ymér, der von der Schule kommt.

Mit Peter Kiesel, sagt Aniflur.

Mit einem Wiesel? Ich sehe kein Wiesel, sagt Ymér.

Nein mit einem Kiesel, einem Kieselstein.

Und was sagt der Wieselstein, äh der Kieselstein?

Dass er vom Bach kommt. 

Wie hat er das denn gemacht?

Er ist in meinen Schuh gehüpft.



Du bist aber klein. Bist du noch ein Kind, fragt Ymér den Kiesel?

Oh nein, sagt der Kiesel, im Gegenteil, ich bin alt. Steinalt.

Wie alt ist steinalt, fragt Aniflur?

Älter als alles, was du kennst.

Älter als mein Grossvater?

Viel älter.

Und älter als der Grossvater meines Grossvaters?

Ja, viel älter. Als ich geboren wurde, gab es noch keine Grossväter und Grossmütter. Es gab noch gar keine Menschen. 

Keine Menschen? 

Keine Häuser und keine Strassen.

Auch keine Migros und keinen Coop?

Nein, keine Migros und keinen Coop.

Und keine Legosteine?

Nein, keine Legosteine. Auch keine Bäume, keine Pflanzen, keine Wiesen. Es gab nur Steine und Wasser und Erde und Sand und den Himmel und die Sterne.

War es nicht langweilig? Hattest du nicht langi Ziit.

Steine langweilen sich nicht. Wir zählen die Stunden und Tage nicht. Darum haben wir keine lange Zeit.  



Wie bist du denn geboren?

• Ich war im Bauch des Meeres und dann gab es ein Gerumpel und Gestosse. Ich wurde mit anderen Steinen zusammengepresst und aus dem Meer in die Höhe gestossen. Immer höher und höher, bis wir ein Berg waren, eine Felswand.

Du bist ein Berg gewesen, als du klein warst?

• Ja, eine hohe, steile Felswand.

Dann sind die Steine also gross, wenn sie klein sind? 

• Ja genau.

Und wie bist du dann alt und klein geworden?

• Oh, das hat lange gedauert.

Wie viele Jahre? 

• Ich weiss nicht, ich kann nicht so gut zählen.

Ich kann bis 1000 zählen, sagt Ymér. 

• Ja, aber es dauerte länger.

Tausendundtausendundtausend Jahre oder so, fragt Aniflur?

• Ja, oder noch mehr.

Und was ist passiert, fragt Ymér?

• Es hat geschneit und alles war gefroren. Und das Eis hat den Felsen zerrissen und ich bin abgebrochen. Und den Berg hinuntergerollt und im Geröll gelandet.

Was ist Geröll, fragt Aniflur?

• Die Steine, die vom Felsen abbrechen und hinunterrollen und liegenbleiben.



Und dann warst du ein Kieselstein?

• Nein, ich war immer noch ein grosser Stein.

Wie gross etwa? 

• Etwa so gross wie ein Zimmer.

Und dann?

• Dann hat es wieder geschneit. Und ich wurde unter dem Eis begraben. Und das Eis hat mich gekratzt und geschliffen. Und ich bin wieder zerbrochen.

Und wie gross warst du jetzt?

• Etwa so gross wie ein Tisch.

Und was ist dann passiert?

• Das Eis ist wieder geschmolzen, und ich lag in einem Bergbach, und das Wasser hat an mir gezerrt, bis ich weiter rollte, zusammen mit anderen Steinen. Wir sind übereinander gestolpert und übereinander gepurzelt, bis wir ganz zerschlagen waren. 



Tat das weh?

• Wir Steine sind nicht empfindlich. Wir haben ja ein Herz aus Stein.

• Und was hast du dann gemacht?

 Bin wieder dagelegen wie ein Stein. 

• Lange Zeit?

 Lange Zeit.

• Und war es nicht langweilig?

• Nein, bin einfach dagelegen. Und das Wasser hat mich poliert und geschliffen. Bis es wieder einmal geregnet hat, plitschplatschplotsch, und es wieder abwärts ging rumsdibums. Und so ging es immer weiter. Und ich wurde immer kleiner und verlor an Gewicht. Und dann gab es auf einmal auch Bäume und ich lernte Tiere kennen und dann die Menschen.

Und die Menschen gaben mir einen Namen. Ich soll ein Gneiss sein. Gneiss! Das tönt wie: Beiss, beiss. Zusammengesetzt aus Feldspat, Quarz und Glimmer. Was für Wörter! Schlimmer gehts nimmer! Aber ich nenne mich Peter Kiesel.

Und so bin ich in eurem Bach gelandet und bin in den Schuh von Aniflur gehüpft.

 

• Du kannst bei uns bleiben.

 Danke schön. Legt mich ins Wasser, dann glänze ich schön. 



Besinnlicher Nachtrag

Mit den Menschen läuft es umgekehrt.

Sie kommen fein und rund zur Welt, dann werden auch sie dahin und dorthin gespült, fallen um und rappeln sich auf. Aber sie verlieren das Runde und den Schliff, werden schartig und schrundig wie die Felswand, von der der Kiesel seinen Ausgang nahm.