Kein Himmel

auf Erden



Als Marina Zwetajewa erfuhr, dass Rilke gestorben war, schrieb sie am 30. Dezember 1926 ein Gedicht, das mit der Zeile beginnt:

 

S Novym godom — svetom — kraem — krovom!

 

Das tönt gut, auch wenn man, wie ich, nicht Russisch kann!

Felix Philipp Ingold übersetzt die Zeile so: 

Glückwunsch. Neu das Jahr — das Licht — die Heimat

 

Die Zeile ist voller Anspielungen, die Wörter, so wie sie kombiniert werden, laden sich gegenseitig auf, wie immer bei Marina Zwetajewa, die stets ins Innere der Wörter geht; ein Albtraum für Übersetzer, ein Vergnügen für Leser mit gutem Gehör.

Man könnte es, wie ich mir sagen lasse, auch so übersetzen: 

 

Neu das Jahr— neu die Welt, das Land, die Grenze, neuer Himmel, neues Dach.

 

Also: Jetzt, wo Rilke die beengte Welt verlassen hat, hat er eine neue Heimat gefunden, in der das Licht ein anderes ist und die Grenzen offen. Er hat den Durchbruch geschafft, den er als Dichter suchte. 


Marian Zwetajewa, Neujahrsbrief, Übersetzung Felix, Philipp Ingold, Hanser Verlag.


Aber worauf ich hinaus will ist Folgendes:

Als ich vor vielen Jahren mein erstes Buch mit Gedichten von Marina gekauft habe – das war in Tübingen, ich weiss es noch– , stiess ich neben vielen Fotos der jugendlichen Dichterin mit den runden Augen und den runden Brillengläsern auf ein Foto, das die heruntergekommene Hütte zeigt, an derem Türsturz sich Marina 1941 erhängt hat, nachdem man sie, zusammen mit ihrem Sohn — die Tochter war im Straflager, der Mann ermordet — als unzuverlässige Genossin bei Kriegsbeginn aus Moskau nach Jelabuga in die tatarische Republik gebracht hatte.

Wenn man die Zeile liest, als wäre sie zum Tode von Marina geschrieben worden, bekommen die Wörter einen anderen Sinn:

Das Land, in das sie, aus dem Exil in Paris und Prag 1939 zurückgekehrt war, weil ihr Mann und ihre Tochter zurückgekehrt waren, hat sich – was sie wahrscheinlich schon vorher wusste – nicht als Neue Welt entpuppt, auch nicht als Paradies auf Erden. 

Sie jedenfalls war endgültig am Rande der Welt, am Rande des Lebens, seit sie in Jelabuga gestrandet war, ohne ein Dach, das ein Obdach wäre, oder ein Heim, ganz zu schweigen vom Himmel, der kein Himmel auf Erden geworden war, ganz zu schweigen vom Licht; Licht war keines mehr da, nicht einmal mehr am Horizont, nur noch Grenzen, Abgründe. Der Himmel ein Abgrund, die Heimat ein Abgrund, das Land, das Le-ben.

S Novym godom — svetom — kraem — krovom!


Marina Zwetajewa (1892-1941), 1911, 1916, 1940