Hühnervolk



Als ich am Hühnergehege vorbei ging, kriegte ich Hühnerhaut, musste husten und fing an zu gackern, laut und aufgeregt wie ein verrücktes Huhn. Obwohl es im Vergleich zum Gegacker der Hühner ein melodisches Gackern war – ich gackerte sozusagen mit menschlichem Akzent –, war ich einigermassen erschrocken. Was, wenn mein Gackern nicht mehr aufhörte, wenn ich anstatt zu sprechen in Zukunft gackern würde? 

Ich beschloss abzuwarten und mich solange beim Hühnergehege aufzuhalten. Dort würde mein Gegackere am wenigsten auffallen (auch Hähne gackern ja, wenn sie nicht krähen). 



Die Hühner beäugten mich aus den Winkeln ihrer Hühneraugen, liessen mich aber gewähren. Erst als ich Hunger hatte und an weniger benutzten Plätzen nach Würmern und Körnern zu scharen begann, taten sich ein paar Hühner zusammen und versuchten mich wegzudrängen. Ich entschuldigte mich und fragte nach den Fressplätzen für Neuangekommene.

«Fressplätze für Neuangekommene gibt es nicht,» sagte die Anführerin, «solche Plätze sind nicht vorgesehen, gäbe es sie, würden wir uns vor Neuankommenden nicht mehr retten können.»

«Gibt es da, wo du herkommst, denn nichts zu fressen,» fragte eine braune Henne.

«Ich denke schon,» meinte eine andere, «sonst wäre er nicht so unverschämt gross geworden.» 

Alle lachten.

«Ja, das stimmt,» sagte ich, «ich bin gross, grösser als ihr, aber Menschen sind nun mal so, dafür kann ich nichts, ich bilde mir darauf auch nichts ein, zudem bin ich schon geschrumpft, kann gackern und versuche mich anzupassen.»

«Das fehlte gerade noch,» meinte die Anführerin, «sich hier einschleichen und aufplustern!» 

«Aber dorthin, wo ich herkomme, kann ich wegen meines Gegackers nicht mehr zurück,» versuchte ich zu erklären, als zwei grosse ehrwürdige Hennen sich zu uns gesellten und sagten: 

«Sie müssen, das, was die junge Truppe sagt, nicht ernst nehmen, die haben immer das Gefühl, man wolle ihnen was wegnehmen. 

«Wie wir hören,» sagten die Hennen,» sprechen Sie ja schon ganz gut unsere Sprache, und das ist schon mal ein grosser Vorteil, um sich bei uns zurecht zu finden.»



In der ersten Zeit hatte ich Mühe, mich an die Eigenheiten der hühnerischen Lebensweise zu gewöhnen, zum Beispiel, mit den Hühnern aufzustehen und schlafen zu gehen. Und da ich ja ein Gockel war, war es meine Pflicht, in aller Herrgottsfrühe, kaum war ich wach, lauthals zu krähen, ich, der ich in meinem menschlichen Leben am Morgen kaum den Mund aufmachte.

In anderen Lebensbereichen war es für mich wieder ein Vorteil Gockel zu sein, ich beanspruchte keinen Legeplatz, denn die Legeplätze wurden von den Legehennen eifersüchtig bewacht. Solange sie legten, das wussten die Hühner, hatten sie ihren Platz im Hühnervolk auf sicher, Hühner hingegen, die nicht mehr legten, waren ihres Lebens nicht mehr sicher.

An die Hühnerkost gewöhnte ich mich schnell. Ich lernte, dass Gras nicht gleich Gras ist und Wurm nicht gleich Käfer.

Am Anfang hatte ich wohl beim Anblick eines schönen Hühnerbeins oder einer feinen Hühnerbrust noch Lust auf gegrilltes Fleisch, aber da ich unterdessen selber eine Hühnerbrust entwickelt hatte, kamen solche Gelüste immer weniger auf.

Jeder, ob gross oder klein, hatte für sein Fressen selbst zu sorgen. Zum Glück war da eine grosse Wiese; es war also immer genug Nahrung zu finden. Es gab unter den Hühnern auch ein blindes Huhn, aber auch dieses Huhn hatte für seinen Unterhalt selbst zu sorgen, denn, wie das Sprichwort sagt, auch ein blindes Huhn findet manchmal ein Korn. Allerdings liessen die anderen Hühner ab und zu absichtlich einige Überreste fallen, die das blinde Huhn dann in nervöser Aufregung aufpickte und verschlang. 



Meine Aufgabe war, an der Grenze des Hühnerterritoriums zu patrouillieren, das Näherkommen von Feinden zu melden oder sie zu vertreiben. Dabei musste ich in regelmässigen Abständen krähen, um das Revier zu markieren. Meine immer noch fast menschliche Grösse erleichterte mir die Arbeit: Füchse, Hühnervögel und anderes Gesindel liessen sich nicht mehr blicken.

Aber gerade diese Fähigkeit weckte auch Neid und Feindschaft. Ich sei eben trotz allem keiner von ihnen, ich würde nicht in ihre Gesellschaft passen. Nur schon die Unmenge Körner, die ich fressen würde, seien ein Problem, die würden dann all jenen fehlen, die schon seit Generationen diesen Grund und Boden bearbeitet und sich von ihm ernährt hätten.

Auf den Einwand besonnener Mitglieder der Hühnergemeinschaft, dass ich doch meinen Teil zur Gemeinschaft beitragen würde, sagten sie, dass es früher auch ohne mich gegangen sei, und dass ich ihres Wissens auch noch keine Kinder gezeugt hätte.

Sie glaubten, mich damit in meiner Männlichkeit zu treffen, aber es war mir, um ehrlich zu sein, noch nicht in den Sinn gekommen, eine Familie zu gründen und mit einer Glucke Kinder, sprich Küken, zu haben. Ich hoffte immer noch, dass mich mein Gackern verlassen und ich wieder in die menschliche Gesellschaft zurückkehren konnte. 

Und dann war gerade meine Nichteinmischung in die Produktion des Nachwuchses der Grund, warum ich von den anderen Gockeln akzeptiert und respektiert wurde.

Aber ihr gockelhaftes Getue gefiel mir nicht. Sie gockelten vor sich hin, krähten jeden Hühnerschiess lang zum Himmel und schlugen wichtig mit den Flügeln. Dabei gingen sie notorisch fremd und wehe, ein Huhn erlaubte sich dasselbe, dann wurde es gepickt und gepiesackt.

Sie spielten nach aussen die Machos, aber innerhalb der Familie war es die Mutter, die bestimmte, die Mutter stand über allen, ein Verhalten, das durchaus mit dem in patriarchalischen Menschengesellschaften zu vergleichen war. Und da es nur wenige Gockel gab und also auch wenige Hennen, die sich Gockelmutter nennen konnten, wurde das Hühnervolk tatsächlich von wenigen Hennen geführt, vor deren Angesicht die eingebildeten Gockel zu Hosenscheissern wurden, und ohne deren Einwilligung sie nichts zu unternehmen wagten.

Diese Situation erzeugte bei den Gockeln versteckte Minderwertigkeitsgefühle und Frustration, und die reagierten sie dann an den Hennen ab, die sie mit ihrem herrischen Getue piesackten und auf Trab hielten, so dass das Hühnervolk zuzeiten eher einem aufgescheuchten Hühnerhaufen glich als einer geordneten Gesellschaft. 



Über ihre Nachbarn, Gänse und Kaninchen, kursieren im Hühnervolk merkwürdige Geschichten, wie sie zwischen Nachbarn, die zueinander in Fresskonkurrenz  stehen, typisch sind. Am merkwürdigsten aber waren die Geschichten über das Menschenvolk, dem man wenig Gutes nachsagte.

Man erzählte sich, dass sie Sklavenvölker hielten, die sie mästeten und die sie zwangen sich zu vermehren, um sie dann zu schlachten, zu kochen und zu fressen.

Man erzählte sich Geschichten von Fressorgien, so genannte Grillpartys, an denen haufenweise Hühnerbrüste und Hühnerbeine auf heissem Eisen geröstet wurden.

Aber das seien doch nur Gerüchte, wurde dann wieder von anderen betont, so schrecklich würden die Menschen doch nicht sein, im Gegenteil, sie seien es doch, die sie mit Wasser und manchmal mit Körnern versorgten. Und wie man das alles überhaupt wissen wolle, noch nie sei jemand, den die Menschen aus ihrer Mitte holten, von dort zurückgekommen, um davon zu erzählen. 

Ich hielt mich bei solchen Gesprächen im Hintergrund, tat so, als würde es mich nicht interessieren. Wie sollte ich ihnen denn erklären, dass sie selber in einem solchen Lager steckten, mit dem Vorteil, dass es eine Bioeierfarm war mit Auslauf und genügend Platz, aber der Zweck war derselbe. 

Und wenn ich dann doch um meine Meinung gefragt wurde, weil ich ja von dort draussen gekommen sei, murmelte ich etwas von der vielgelobten Menschlichkeit, die den Menschen eigen sei und verhindern würde, so ungeheure Dinge zu tun, wie nackte Hühnerkörper auf Grillspiesse zu stecken und ganze Ferkel über dem Feuer zu braten.

Und dass Tiere in Lagern gehalten würden, nur um sie später zu fressen, sei doch Unsinn.

«Ihr müsst euch doch nur einmal vorstellen,» sagte ich zu ihnen, «wie ungeheuer viele Tiere die Menschen halten und füttern müssten, das wären ja Millionen und Abermillionen. Das ginge doch gar nicht, und dann das ganze Schlachten, Rupfen, Ausnehmen und Zerlegen, das wäre ja eine gigantische Sauerei, beziehungsweise Hühnerei. Und was sollten sie dann mit den ganzen Knochen, diesen Bergen von Knochen und Häuten und Federn. Nein, nein, da ist es doch für die Menschen einfacher, sich direkt von Körnern und Früchten zu ernähren, anstatt Tiere mit Körnern und Früchten zu mästen, um diese Tiere dann zu verzehren.» 

«Nein, nein,» sagte ich noch einmal, «ihr könnt mir glauben, ich muss es ja wissen, ich bin ja selber ein halber Mensch.»

Das beruhigte die Hühnerschar für einige Zeit, mindestens so lange, bis wieder einige Hennen aus ihren Reihen verschwanden, eben jene, die aufgehört hatten Eier zu legen, und neue Gerüchte und Vermutungen aufkamen.



Ein Problem, dass ich früher oder später lösen musste, war der Umgang mit dem Besitzer des Hühnervolkes.

Wie sollte ich ihm gegenübertreten? Bis jetzt hatte ich es vermeiden können. Sollte ich einfach so tun, als wäre ich zufällig hier? Auf die Dauer musste das schiefgehen. Aber wie sollte ich mich verständlich machen? Mein Gegackere würde ihn brüskieren, und würde ich schweigen, wäre es möglich, dass er die Polizei oder den sozialpsychologischen Dienst einschalten würde. Und zudem hatte ich mit der menschlichen Stimme auch nach und nach andere menschliche Eigenschaften verloren, es machte mir zum Beispiel nichts mehr aus, wo ich ging und stand, meinen Kot fallen zu lassen, auch meinen Heisshunger auf Würmer würde von Sozialpsychologen, die nur das menschliche Verhalten als Massstab nahmen, falsch gedeutet werden. 

Schliesslich waren diese Befürchtungen ungerechtfertigt, denn der Hühnerzüchter verstand überraschenderweise mein Gackern und sagte: 

«Ihre Geschichte höre ich nicht zum ersten Mal. Das passiert immer wieder. Das hat mit der Hühnerkacke hier zu tun, die verunreinigt die Luft. Und die verändert bei entsprechend Anfälligen den Kehlkopf und die anderen Organe, die der Sprache dienen. Entsprechend Anfällige sind Leute, die zu viel Huhn und Eierspeisen essen. Ist ja klar, dass sich dann der Organismus verändert, das heisst, die menschlichen Zellen werden durch Hühnerzellen ersetzt. Das gibt sich aber wieder. Und Ihr Fall ist noch ein leichter, es gibt Berichte, dass sich Menschen ganz in Hühner verwandelt haben.»  

Und tatsächlich, er hatte recht. Es gab sich wieder.

Wie sonst hätte ich jetzt hier davon erzählen können?