Mein Vater  + Hölderlin



Mein Vater kam vor doch schon einigen Jahren (Jahrzehnten besser gesagt) eines Tages von der Arbeit, und nachdem er sich in der Küche mit Terpentin die Hände gewaschen hatte, setzte er sich an den Tisch und sagte:

Kennst du Hölderlin?

Der hat Gedichte geschrieben.

Ist dann verrückt geworden.

Den musst du lesen!

Mein Vater, der alle möglichen Dinge malte, Häuser und Brücken und Schlafzimmer, war an jenem Tag dabei, das alte Schloss in Hauptwil zu streichen, und über dem Eingang hatte er diese Inschrift entdeckt:



 Ich habe ihn zu lesen versucht, damals noch mit wenig Erfolg. Zuviel griechische Mythologie, zu viele schöne Wörter: fromm und hold und immer wieder heilig. Ich war damals fünfzehn oder sechszehn und auf einem anderen Trip.

Natürlich, einzelne Zeilen haben mir gefallen. Zum Beispiel das mit den Rosen und den klirrenden Fahnen. Da heisst es am Anfang:

 

Mit gelben Birnen hänget

und voll mit wilden Rosen

das Land in den See.

 

(Das Land hängt bei Hölderlin oft in den See, manchmal ganze Berge.)

Und dann am Schluss:

 

Die Mauern stehn

sprachlos und kalt, im Winde

klirren die Fahnen.

 

Die sprachlosen Mauern fand ich stark und die klirrenden Fahnen, obwohl ich noch nicht wusste, dass blecherne Wetterfahnen gemeint waren. Im gleichen Gedicht aber schreibt er auch von Schwänen. Ihr holden Schwäne! redet er sie an. Ihr holden Schwäne! Als hätte er nicht gewusst, wie die picken und hacken, wenn man ihnen zu nahe kommt. Und trunken von Küssen sollen sie sein. Trunken von Küssen, die Schwäne! Aber vielleicht sind mit den Schwänen keine Schwäne gemeint, habe ich schon damals gedacht. Und heute weiss ich, ein Sinn- bild für die Schönheit sollen sie sein und für die Dichter. Die Dichter? Na ja. Alles, was die Schwäne in der Hinsicht können, ist aufgeregt krächzen und schnattern.

 

Jetzt aber kam mir ein Gedicht in die Hände, das Hölderlin in Hauptwil schuf, um den Ausdruck aus der Inschrift zu gebrauchen. Unter den Alpen gesungen heisst es. Da stehen die Zeilen:

 

heilige Unschuld...

wie rein ist Reine dir alles...

 

der Wald spricht wie vor alters

seine Sprüche zu dir...

 

Und dann:

 

so mit den Himmlischen allein zu sein, und

geht vorüber das Licht, und Strom und Wind

und Zeit eilt hin ...


Ich mit Hölderlin


Wie rein ist Reine dir alles!?

Aber dann hatte ich plötzlich eine Ahnung, was mit der heiligen Unschuld gemeint sein könnte und mit den Himmlischen, von denen er immer wieder spricht. Nicht die Himmlischen, von denen ich in meiner katholischen Schule gehört hatte, sondern das Licht, das Wasser, der Wind und die Zeit. Und mit der heiligen Unschuld muss eines der Mädchen gemeint sein, die er damals 1801 in Hauptwil im Hause Gonzenbach unterrichtete. (In einem Brief an seine Mutter aus der Zeit in Hauptwil, spricht er vom unschuldigen Frohsinn der Kinder, die er unterrichtet.) Die fünfzehnjährige Barbara Julia weiss ich nicht, oder die vierzehnjährige Augusta Dorothea. Aber ich kann mir vorstellen, dass die fünfjährige Pauline noch

das Licht vorüber gehen sah

und auch den Wind,

als wären es körperliche Wesen, Spielgefährten, die einen ja berühren

und einem über die Wange fahren.

So wie das Wasser mit einem spricht und der Wald, wenn man das Ohr dafür hat.

 

Der Wald spricht wie vor alters seine Sprüche zu dir...

Meinem Vater hätten die Zeilen gefallen.


Mein Vater mit Hölderlin