Die Frau mit dem Pferdchen
«Allerhand Gedanken verfolgten mich,» lese ich gerade.
Da fährt eine Frau mit ihrem grauen Pferdchen einen Hügel hinauf und dann wieder hinunter. Der Himmel ist bedeckt, es droht ein Unwetter. Sie ist voller Ungeduld und da eben sagt sie: « Allerhand Gedanken verfolgten mich, ich hätte sie gerne hinter mir gelassen.»
Aber eben: Wie soll man Gedanken hinter sich lassen, da kann das graue Pferdchen noch so traben, die Gedanken traben auch, sind immer schon da oder kommen immer wieder, und der Himmel bleibt bedeckt und auch das Unwetter verzieht sich nicht.
Sie fährt dann wie eine Verrückte weiter, möchte nicht nur die Gedanken, sondern ihr ganzes bisheriges Leben hinter sich lassen. «Ich wollte aus dieser Stadt heraus, aus meinen Kleidern, aus meiner Ehe, aus meinem Körper.»
Bei Anderson, das ist der, der die Frau sprechen beziehungsweise denken lässt, da tröpfelt das Leben immer so vor sich hin, und alles ist schön und gut, und man macht dies und das, was man halt so tut in einer Kleinstadt in Ohio um 1900.
Und plötzlich mit einem Satz oder zwei bricht alles auseinander und man sieht hinter die Kulissen oder in eine Seele hinein.
Sophie, '92
Ich bin in letzter Zeit öfter nicht bei der Sache, wenn ich lese, wie jetzt gerade, werde von Gedanken fortgetragen, weg von den Zeilen, komme ins Sinnieren, Spintisieren. Das stört natürlich beim Lesen, ist aber nicht so schlimm, als wenn einen Gedanken verfolgen, das ist schon was anderes. Bei mir ist es mehr so eine Unkonzentriertheit, eine Gedankenverlorenheit, die mich vom Lesen abbringt. Ich wehre mich auch nicht dagegen. Ich hänge den Gedanken während dem Lesen gerne nach, während man Gedanken, die einen verfolgen, gerne los wäre. Und nicht nur sie. Wie die Frau mit dem Pferdchen sagt: Man hätte am liebsten einen neuen Körper, eine neue Ehe oder gar keine, neue Kleider, nun ja, das ist noch das einfachste.
Warum ich jetzt von der Frau und Anderson erzähle?
Ja, das war auch nur so ein Gedanke, weil ich dalag und nicht wusste was tun. Da schaue ich dann aus dem Fenster und wenn sich draussen auch nichts tut, schaue ich auf die Bücherwand, die ist so schön bunt, all die verschiedenen Bücherrücken, was man nicht alles zusammenkauft im Laufe eines Lebens, und da war dann der Anderson, ein Buch unter andern Büchern. Warum nicht, dachte ich, Anderson ist immer gut.
Ich hatte ihn lange nicht mehr in der Hand, ich musste nicht einmal aufstehen, ich konnte ihn von der Liege aus erreichen und darin blättern und auf Seite 222 steht das mit der Frau und dem Pferdchen, die von allerhand Gedanken verfolgt wird, wobei das ja noch nach nichts tönt, dieses „allerhand“, nichts Gravierendes, halt so ein paar Gedanken.
Sophie, '87
Aber falsch gedacht.
An den Gedanken muss allerhand gewesen sein, sonst hätte die Frau nicht aus allem rausgewollt, sogar aus ihrem Körper, was dann doch allerhand bedeutet, auch ganz unschöne Dinge. Und das Pferdchen, das am Anfang noch gemütlich trabt, bergauf und bergab, legt sich dann ganz schön ins Zeug, und das Wägelchen lässt eine Staubwolke fliegen. Ob sie es geschafft hat, den Gedanken und allem anderen zu entfliehen, ich weiss nicht, ich wurde dann, wie gesagt, beim Lesen wieder von Gedanken gestört, begann wieder ein bisschen zu Spintisieren und Sinnieren, zum Beispiel darüber, wie das Leben wohl war für eine Frau, als man noch mit Pferdchen und Wägelchen unterwegs war. Und wovon sie wegfuhr und was sie hinter sich lassen wollte.
Was das war? Ich weiss nicht genau, dies und das und allerhand.
Sie können es nachlesen im Buch: Sherwood Anderson, Winesburg, Ohio. Bibliothek Suhrkamp.