Über die Seele



1

Die heilige Anne von Ramschwag, die ich gut kenne, weil ich als Kind in den Ruinen der Burg gespielt habe, in der sie – ja aufgewachsen kann man nicht sagen, weil sie schon als Kind ins Kloster gegangen ist oder gegangen wurde. Also die Anne von Ramschwag konnte ihre Seele mit eigenen Augen sehen. Tatsache. Sie schaute in sich hinein, und da war sie und sah aus, sagt sie, wie ein unschuldiges Kind. Neben dem Kind sass noch ein Kind, das Jesuskind.

Für Meister Eckhart war das Innerste der Seele Gott. Genauer gesagt: Die Seele ist mein Ich, von dem ich zwei habe, eins im andern.

Das äussere Ich ist das Pseudo-Ich; es will immer etwas, strebt von sich fort in die Welt. Das innere Ich ist immer bei sich, das innere Ich ist Gott.

Aber das hätte er besser nicht gesagt.

Er wurde als Ketzer verurteilt. 

Ist trotzdem ein schöner Gedanke.



2

Manche Seelen sind erleuchtet, andere tappen im Dunkeln, wieder andere sind von sich aus eher trübe, manche sogar rabenschwarz. 

Aber man kann sie reinigen.

Wie man die Seele reinigt? Mit Tränen!

Das ist altbekannt: Tränen reinigen die Seele.

Man kann die Seele auch läutern.

Anne von Ramschwag, die ich gut kenne etc. (siehe Seele1), war zum Beispiel «als lûter als ein Kristall».

Bis es soweit war, war da allerdings viel Ungemach. Anne war oft krank, lag siech danieder. Ihr Herz war dann wie tot. Und bereit für grosse Gnaden. Eine Mitschwester, die nach Anne schaute, als sie wieder einmal krank danieder lag, fand sie über dem Bett schwebend, in Tränen aufgelöst, glückselig.



3

Die meisten Menschen haben eine Seele. 

Die eine ist rührselig, die andere feindselig, die dritte ein Abgrund.

Der Grund ist der, dass nicht alle Seelen gleich schwer sind, darum werden sie auch am Ende der Tage gewogen. Ich weiss jetzt gar nicht mehr, was besser ist: schwer oder leicht.  

Denn wird die Seele zu schwer oder zu leicht befunden, dann, ja was passiert dann? Das müsste man die Theologen fragen. Ich glaube, sie wird im Fegefeuer verbrannt. Oder noch schlimmer, sie wird ins Feuer geworfen und da brennt sie dann für immer und ewig.

Dann gibt es aber auch diejenigen, die glauben, dass die Seelen wiederkommen. Sie fliegen nur ein bisschen durch die höheren Gefilde, um sich zu erholen, dann suchen sie sich wieder einen Körper aus.

Ich würde sagen, nach etwa drei Monaten.



Ein Herz und eine Seele

Das Herz kennt man ein bisschen besser, die Seele ein bisschen weniger.
Oft verwechselt man sie. Manche sprechen vom Herz, wenn sie die Seele meinen.
Sie sagen zum Beispiel: Das liegt mir am Herzen. Dabei liegt es an der Seele. Von der Seele weiss man einfach zu wenig, ausser dass sie einen

ab und zu quält.

Sie ist im Gegensatz zum Herz, das immer alles ausposaunt, introvertiert und mit geistigen Dingen beschäftigt, während das Herz körperlich arbeitet, das heisst Blut pumpt. Das erklärt auch, warum die beiden entgegen der landläufigen Meinung nicht immer ein Herz und eine Seele sind.

Wie das Herz aussieht, wissen wir, aber wie sieht die Seele aus? 

Manche sagen wie ein Schmetterling, andere sagen wie eine Feder.

Ich meine eher wie eine Wolke. Oder wie ein unergründlicher See.

Einige sagen, sie sei ein Wirbel im Ich.

Das tönt zwar schön, aber ich glaube, diejenigen, die das sagen, haben sie nicht wirklich gesehen.