Kindergeschichten



Jetzt möchte ich ein paar Kindergeschichten erzählen, mal schauen, was dabei rauskommt.

Die erste beginnt vor meinem Fenster, da haben die Kinder mit Kreidefärbeln schwierige Wörter auf die Strasse gemalt. In riesigen Buchstaben, farbig und dick. Brogoli zum Beispiel. Dann haben sie das Wort durchgestrichen und Brockoli geschrieben. Und Zigarete steht auch da. Das Wort ist zwei Meter lang. Man sieht, das Schreiben von schwierigen Wörtern hat ihnen Freude gemacht. Bis vor Kurzem haben sie nur ihre Namen geschrieben. Mit Herzchen auf den i’s. Ich kenne die Künstlerinnen, die eine ist Vegetarierin, die andere hat zum Schulpicknick eine Bratwurst mitgenommen und einen Cervelat zum Dessert. Wollte mitnehmen, muss ich sagen, die Mutter hat es verhindert.


Aniflur


Die zweite Geschichte handelt von einem Mädchen, noch kleiner als die zwei andern. Es hat vor ein paar Tagen auf unhs eingeredet, lange und engagiert, fast schon eine zusammenhängende Rede. Und wir haben nichts verstanden. Auch ihre grosse Schwester hat nichts verstanden. Und das Mädchen konnte nicht verstehen, dass wir nichts verstanden. Aber es war sehr überzeugend. Es hat sogar mit den Händen gesprochen. Was das Mädchen wohl sagte? Was es wohl dachte, dass es sagte? Und schliesslich ist ja auch unser Sprechen ein mehr oder weniger langes Gesummse für Leute, die unsere Sprache nicht sprechen. Ich komme jetzt drauf, weil ein Tamilenkind vorbeigeht. Es geht zur Logopädin, die ist hier gleich um die Ecke, vom Kindgsi sind es 150 Meter. Vokale die nicht wollen, wie sie sollen, Konsonanten, die verrückt spielen. Es sind einige, die zur Logopädin gehen, ich sehe sie immer von meiner Liege aus. Gehen nicht ungern, wenn ich das beurteilen kann. 

Gut, das ist jetzt nicht so eine richtig zusammenhängende Geschichte, aber ich lasse sie mal stehen. 

Die nächste Geschichte besteht aus nur einem Satz. Er geht so: Gestern ist ein Kind in die Hocke gegangen und hat sich über einen Büschel Gras gebeugt, als wollte es ihn studieren. Das ist alles. Ende der Geschichte. Ich kann sie natürlich kommentieren, wie sie das früher getan haben in diesen Fabeln, wo am Ende der Geschichte steht, was man von der Geschichte halten soll, und was die Moral der Geschichte ist.

Also hier die Moral. Das Kind hat schon recht. Von den Pflanzen könnten wir noch viel lernen, wenn man bedenkt, wie kompliziert wir essen, kacken und verdauen. Sie hingegen, die Pflanzen, leben von Licht und Wasser.


Ymér


Die Geschichte, die jetzt kommt, hat den Titel: Die rennenden Kinder. Eigentlich enthält sie mehrere Geschichten.

Da gibt es ein Mädchen, das nach dem Kindergarten immer zur Mutter rennt, die vor der Schule wartet. Und sie umarmt und dann gleich weiter rennt, Richtung nach Hause. Es gibt ja Kinder, die zu ihren Müttern rennen, streben, wollen, dann aber wieder andere, die sich wehren und zu ihrem Glück gezwungen werden müssen. Davon gleich weiter unten. Ich erzähle lieber zuerst noch von diesem strahlenden Büblein. Das strahlende Büblein hat einen gelben Rucksack und rennt auch immer voraus, wie das Mädchen oben, seine Mutter ist eine strahlende schwarze Matrone in farbigen wallenden Kleidern, und es ist vielleicht nicht korrekt, in diesem Ton von ihr zu sprechen, und auch von ihrem strahlenden Büblein sollte ich vielleicht nicht so sprechen, weil doch Büblein schon fast wie Negerlein tönt, und das wäre dann ja Kolonialismus. Also lassen wir das.

Jetzt zu der Geschichte, die ich angedeutet habe. Auch sie handelt von einer Mutter und einem Kind. Auf dem Spielplatz schaute ich einmal zu, wie eine Mutter ihr Kind zu sich rief, das wegzulaufen versuchte. Die Frau, mehr im Spass, verfolgte es, mit offenen Armen, als wollte sie es in die Enge treiben, und griff dem Mädchen, als sie es erreichte, von hinten unter die Arme und hob es in die Luft. Das Kind zappelte und schlug mit den Beinen, worauf die Mutter die wirbelnden Beine mit der einen Hand festhielt. Das Kind sperrte sich dagegen, versteifte sich, warf den Kopf in den Nacken und lag dann wie ein Stück Holz in den Armen der Frau. 

So, das waren die versprochenen Geschichten. Keine weltbewegenden Sachen, ich weiss. Oder doch?