Anna Achmatowa


Ich und Mich im Gespräch

oder

Auf dem Grund der Seele liegen Wörter



Taschkent

In Taschkent musste ich an sie denken.

Wir wohnten etwas ausserhalb der Stadt, in einem kleinen Haus mit Säulenvordach und einer weiten flachen Eingangstreppe. Auf der Vorderseite waren hohe schmale Fenster angebracht, und auch die Rückseite des Hauses war durch eine Fensterfront zum Garten hin geöffnet und zu den weiten braunen Feldern, auf denen da und dort hinter Büschen und unter Bäumen weitere Häuser standen, die aussahen wie Sommerhäuser aus der vorrevolutionären Zeit.

Die Achmatowa wird ganz anders gewohnt haben, als sie während des zweiten Weltkrieges aus Leningrad nach Taschkent evakuiert wurde, gegen ihren Willen, zusammen mit anderen Intellektuellen und Künstlern, nachdem sie schon lange vor ihrer Evakuierung an den Rand der Gesellschaft gedrängt worden war von der menschenverachtenden neuen Zeit.

Aber auch ihr wird der niedere Himmel aufgefallen sein, dachte ich damals, als ich auf die Felder blickte, dieser Himmel, der dort immer so tief hängt, ganz anders als in Moskau oder Petersburg, wo er im Herbst so unerhört nach oben steigt, wie sie schreibt. Wo auch das Licht ein anderes ist, nehme ich an, nicht dieses ungehemmte, das in den Augen brennt, von dem man fast schneeblind wird, inmitten von Steppe und Wüste.

Aber sie lebte nicht eigentlich dort, nicht mit ihrer ganzen Seele, in jener Stadt, die damals vor dem grossen Erdbeben von 1966 noch ganz anders ausgesehen haben muss, fremdartiger, mit Lehmhäusern und grossen Innenhöfen. Es war nicht die Zeit, sich auf die Stadt einzulassen, auf ihre Menschen und Geschichte. Obwohl da etwas war, das sie bedrängte, eine Ahnung von anderen Zeiten, anderen Räumen. Es sind deine Luchsaugen, Asien, die etwas in mir erspäht. Die hervorlocken etwas Verborgenes, das die Stille gebar, das schwer zu ertragen und quälend, schreibt sie.

Aber da war Leningrad, das zerbombte, aus dem sie verjagt worden war, in dem der Hunger umging und der Tod, Leningrad, das sie nicht losliess, das sie vor Augen hatte, Tag und Nacht, auch in Taschkent. Sie sah die Schuttkegel, die von den Bombentrichtern aufgerissenen Strassen, über die vor Hunger und Angst irr gewordene Menschen hetzten, um sich in eingestürzten Gebäuden zu verkriechen wie scheue wilde Tiere. «Ich war mit meinem Volk zu jenen Zeiten, wird sie 1961 schreiben, dort war ich, wo mein Volk, zum Unglück, war.»

 

Als sie 1966 starb, folgten Tausende ihrem Sarg.


J. Annenkow, 1921. In: Anna Achmatowa. rororo Monografie.


Sie war ein Ereignis

Ein Meter achtzig gross, dunkelhaarig, hellhäutig, mit den blassen graugrünen Augen der Schneeleoparden, so beschreibt Brodsky sie. Verhangene Augen. Traurig schon auf Kinderfotos. Der scharfgeschnittene Mund, die wachsame Adlernase. Ein Kopf mit Vorder- und Seitenansicht, wie jemand sagte. Schon Modigliani zeichnete sie in grosszügigen einfachen Linien, da war sie zwanzig Jahre alt. Bekannt ist das Bild, das Nathan Altman von ihr gemalt hat: Auf einem Stuhl sitzend, im langen Kleid, ein Bein über das andere geschlagen. Die Haltung muss für sie typisch gewesen sein, auch auf Zeichnungen und Fotos sieht man sie so sitzen. «Ich konnte mein Leben lang aussehen wie ich wollte,» sagte sie, «von einer Schönheit bis zur Missgeburt.»

Besonders an ihrer Haltung und an der Art, wie sie sich bewegte, muss etwas gewesen sein; im Literaturclub, wird berichtet, wurde es still, wenn sie durch das Billardzimmer ging. In den späten Jahren, als man sich wieder mit ihr sehen lassen konnte, ohne Repressalien befürchten zu müssen, entstand dort, wo sie auftauchte, wieder das, was man den Achmatowawirbel nannte. 


Anna Achmatowa , Ende 1950er Jahre.  In: Die roten Türme des  heimatlichen  Sodom.  Oberbaum Verlag.


Sie war auch ein Verhängnis

Als sie fünfzehn ist, tötet sich ein Junge: er ist unglücklich in sie verliebt. Ihr erster Mann, der Dichter Gumiljow, wird 1919 von den Bolschewiken erschossen. Ihr zweiter Mann kommt ins Gefängnis. Ihr dritter auch. Und immer wieder neue Nachrichten von Dichterfreunden, die sich umbringen, umgebracht werden: Majakowski, Mandelstam, Zwetjaewa. «Ihr alle, die ich hier auf Erden angetroffen, seid des vergangenen Jahrhunderts hingewelkte Saat,» schreibt sie. Immer wieder muss sie sich aufraffen, muss die Erinnerung töten und «in schwarze Tücher packen». 

Schreiben ist gefährlich: Es droht die Verfolgung, die körperliche Vernichtung. Immer wieder hat sie ihre Werke vernichtet, verbrannt, vor den Spitzeln versteckt. Auch insofern war sie buchstäblich zum Lied geworden, wie sie schreibt, weil sie alle ihre Gedichte im Kopf hatte. Zwanzig Jahre hat sie keinen Gedichtband veröffentlicht. Es gab Zeiten, da existierten ihre neuen Gedichte nur in ihrem Kopf und in den Köpfen einiger Bekannten, die sie auswendig lernten und die sie ab und zu aufsuchte, um ihr Gedächtnis zu überprüfen. Dann sprachen sie sich die Gedichte vor, mit Lydia und Nadeschda, ihren Freundinnen, machte sie das oft. 

Ich sehe sie sitzen vor der offenen Tür zum Garten und ihre Gedichte rezitieren und in die Stille hineinhorchen, die sie umgibt: «Wie Gewitter weit, rollt Stille, die mein Wort nicht hört» wird sie später schreiben. Eine Todesstille, eine Grabesstille, die im Laufe der Jahre fast alle ihre Dichterfreunde begraben, zum Schweigen gebracht hat. Auch ihr Sohn verbringt 18 Jahre in Gefängnissen und Straflagern. Um dem Straflager zu entkommen, meldet er sich im Krieg in ein Strafbataillon und überlebt. Nach seiner Rückkehr wird er erneut verhaftet und sie, um ihn mit Kleidern und Essen zu versorgen, steht wieder in der Warteschlange vor den Mauern des Kresty-Gefängnisses, zusammen mit all den andern Frauen und Müttern, wie sie es immer gemacht hat, in den Schreckensjahren des Terrors. «Einmal hat mich jemand „identifiziert“,» schreibt sie später. «Da erwachte hinter mir eine Frau mit blauen Lippen, die gewiss nie in ihrem Leben meinen Namen gehört hatte, aus der uns allen eigenen Starre und flüsterte mir ins Ohr (dort flüsterten alle): „Können Sie auch das beschreiben?“ Und ich sagte: „Ja“. Da glitt ein Lächeln über das, was einmal ihr Gesicht gewesen war.» 

Und sie hat davon geschrieben, in diesem Zyklus, den sie Requiem nannte, ein Requiem auf das Jahrhundert, auf die Toten, die lebendig Begrabenen, für alle, die stumm und taub geworden waren vor Angst und starr vom Horchen auf die Geräusche in der Nacht. Und für alle, die «die Nachricht morgens traf, wer umkam in der Nacht.»



Sie überkommen sie, die Verse

Es gibt Zeiten, da ertönen sie ununterbrochen. Kommen leicht und frei. 

Am 24. Dezember 1959 schreibt sie in ihr Tagebuch: «Ein ruhiger, sehr stiller Abend, ich war die ganze Zeit allein, das Telefon schwieg. Verse immerzu, ich vertreibe sie, wie immer, bis ich eine wirkliche Zeile höre.» 

Es braucht die abendliche oder nächtliche Stille, das Alleinsein. Eine gewisse Mattigkeit auch. Und was dann geschieht, geschehen kann, beschreibt sie in einem Gedicht: 

«Aus unerkannten und gefangenen Stimmen formt sich für mich ein Klagen und ein Stöhnen. Ein Flüstern und Geklirr. Und dann ist da ein Ton, ein Laut, der alles andere wegschiebt. Dann Worte, noch unklar, kaum geboren. Und endlich der zarte Klingelton des Reims. Und zärtlich unverschämt legt sich der Vers aufs weisse Blatt.» 

Es gibt Gedichte, schreibt sie, «die brechen ein ins Haus: tanzen, lachen und klatschen. Es gibt welche bei weissestem Licht: sie strudeln über den Bogen, beinahe so, als sähen sie mich nicht.» Und dann gibt es Gedichte, «die lassen sich nicht fangen, sind farb- und lautlos. Werden wieder zu Schweigen.»  

Und so sitzt sie nächtelang im Sessel und horcht. Horcht auf das Flüstern, auf den Strom der Sprache, auf das, was zwischen Wachen und Schlafen in ihr mit ihr zu ihr spricht. In Worten, die ganz anders sind. Sie «sind hart wie Umarmungen und zugleich zart wie frisches Gras.» Es sind Worte, die «das Unerhörte erahnen lassen, das, was in Geigenbögen ist, in sterbenden Rosen. Oder das, was wir Frühling nennen.» Oder Worte, die es schaffen, dass «der Vorzeit Gedächtnis, wie Lava in unser Bewusstsein sinkt.»


Bildnis Anna Achmatowa, 1914 (Nathan Altman)


Der unberührbare Pol

Was passiert, wenn die Worte nach vorne drängen und wo kommen die Worte her, die ganz anders sind?

Dem ist sie in ihrem Drama Enuma elisch, Traum im Traum, nachgegangen. Es handelt sich dabei um ein Konvolut aus losen Blättern, bestehend aus Lyrik, Prosa, szenischen Texten.

Im Stück, wenn es denn ein Stück ist, spricht die Hauptperson mit einem ER, einer STIMME, einem SCHATTEN, einem GAST, einem X.

Die handelnden Personen scheinen austauschbar, wenn es denn Personen sind, und nicht die Stimmen im Kopf, die hier auf die Bühne kommen. 

Sie kommen aus «des Schlafes tiefsten Schichten». Dort, in ihrem bodenlosen Innern, im Meer des Unbekannten, auf dem Grund der Seele, «im unberührbaren Pol» wie sie es nennt, verwandelt sich alles, was von aussen kommt: wird Sprache, Lied, Gedicht. Dort ist ihr Schatten, ihr Doppelgänger, die Stimme, die Inspiration.

Sich diesem unberührbaren Pol zu nähern, ist ihre grösste Wonne und ihre grösste Freude. Aber es ist gefährlich: «Wenn ich mich nachts bereite auf ihr Kommen, dann hängt mein Leben, scheint es am seidenen Band. Schon weiss mein Geist, im Wahn verstört, nicht mehr, was aussen ist, was innen». 

Darum nennt sie die Inspiration den «Atem der Verwünschung.» Sie ist zugleich betörend und zerstörend. Wie der Gesang der Sirenen.

Enuma elisch hat sie in Taschkent zu schreiben begonnen. 

Und damit schliesst sich der Kreis.