Bräkergebiet
Ich steige in Lichtensteig aus dem Zug und nicht in Wattwil, wie ich es vorgehabt habe. Es geht gleich aufwärts, über Stock und Stein, aber man kommt ja überall hoch, wenn man sich Zeit lässt.
Ich komme zu einem Wegweiser, der mich auf Dreyschlatt aufmerksam macht, wo Ueli Bräker aufgewachsen ist, aber der Weg führt nach unten, nachdem ich mühsam hochgestiegen bin, und das geht mir gegen den Lauf, also lasse ich es bleiben.
Aniflur 2019
Ich steige weiter, aber wieder kommt mir Bräker in die Quere, beziehungsweise ein Wegweiser, auf dem Krinau steht. Dorthin ging Bräker manchmal, um die Predigt zu hören. Es kam vor, dass er am gleichen Tag zwei Predigten hörte, in Lichtensteig und in Krinau, einfach um auf andere Gedanken zu kommen, das muss man sich einmal vorstellen. Und vielleicht, wenn er Glück hatte, mit dem Pfarrer ein Gespräch zu führen über den Alltag hinaus, ob nun religiös oder nicht.
Obwohl er zu gewissen Zeiten schon ein arger Frömmler gewesen sein muss, seitenweise geht das im Tagebuch, über Wochen und Monate, langweilig und eintönig und immer dasselbe.
War glaube ich für den ältesten Sohn gedacht zur Erbauung, um ihn auf den rechten Weg zu bringen, ob das funktioniert hat, ist zu bezweifeln.
Aber irgendwann kam er wieder ab vom überfrommen Pfad, und das Tagebuch wird wieder interessant. Natürlich nennt er nicht alles beim Namen und bringt nicht alles auf den Punkt, das wäre zu viel verlangt zu jener Zeit, aber man kann seine Nöte erahnen: Da war das, was die Pfaffen erzählten, und da waren seine Gelüste und Hintergedanken. Davon erzählt er, wenn auch hinter vorgehaltener Hand.
Auch scheint ihn im Alter immer noch zu beschäftigen, was in seiner Jugend zwischen ihm und einem jüngeren Nachbarsmädchen vorgefallen war, das geht über mehrere Seiten; darüber schreibt er erstaunlich offen. Und das müsste sich dann ja in der Dreyschlatt zugetragen haben, zu der ich nicht heruntergestiegen bin, was ich vielleicht hätte tun sollen, auf jeden Fall bring ich den Bräker nicht mehr aus dem Kopf, während ich bergwärts gehe und staune, dass über mir die Chrüzegg auftaucht, ich ging schneller als erwartet.
Wenn auch nicht so schnell wie Bräker, wenn er mit seinen Leinenbündeln nach St. Gallen ging, wo er dann den Girtanner aufsuchte, den Bankier, mit dem er über Bücher reden konnte.
Schon verrückt, wenn das Schreiben und Lesen einen packt. Girtanner, der auch mit dem Doktor Sulzer in Winterthur verkehrte, und der wiederum mit dem Unternehmer Gonzenbach in Hauptwil, wo Hölderlin für ein paar Monate Hauslehrer war, ein paar Jahre nach Bräkers Tod.
Und so geht es weiter in meinem Kopf, während ich doch eigentlich nur auf die Chrüzegg gehen wollte; wirklich verrückt.