Schneckenwelt



Bis vor Kurzem war ich der Meinung, dass «Du Schleimscheisser!» nicht gerade etwas Tugendhaftes beschreibt, und dass «Dich mach ich zur Schnecke!» eher eine Drohung ist als ein Lob. 

Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher.

Aber beginnen wir von vorne.

 

Vor ein paar Monaten habe ich mich entschlossen, mir eine Schnecke zuzulegen. 

Eine Schnecke ist sehr anhänglich und im Grunde harmlos, sagte ich mir, sie hält dich nicht auf Trab, und wenn du sie einmal vergisst, weiss sie sich zu helfen. Sie kann dir Gesellschaft leisten, und du fühlst dich weniger allein. 

Das Zusammenleben ist dann etwas anders verlaufen, als ich geglaubt habe. Die Schnecke weiss sich zu helfen, das stimmt, aber harmlos ist sie nicht; sie bringt mein Leben durcheinander.


Weinbergschnecke, H. Zell, CC BY-SA 3.0 


Nachdem ich mich entschlossen hatte, mir meine kleine, ganz private Hausschnecke zuzulegen, musste ich mich für eine Schneckenart entscheiden. Es war mir klar, dass es eine Landschnecke sein sollte, aber unter den Landschnecken gibt es viele Formen und Arten. 

Sollte es eine aus der Gruppe der Schnirkelschnecken sein, die so niedlich klein sind und die uns mit ihren fein gezeichneten Spiralbändern bezaubern? Gegen die Schnirkelschnecken aber sprach ihr zerbrechliches Gehäuse, was für ein Zusammenleben auf engem Raum – und meine Wohnung ist nicht allzu gross – ein erhebliches Risiko darstellte. Bei einer Nacktschnecke hätte sich dieses Problem nicht gestellt, ganz einfach, weil sie kein Gehäuse hat, aber sie fällt wieder durch ihre Fressgewohnheiten – sie ernährt sich von verrotteten Pflanzen, Tierleichen und Kot – unangenehm auf. Schliesslich entschied ich mich für eine Weinbergschnecke. Sie frisst ausschliesslich Grünfutter und auch ihr starkes Gehäuse spricht für sie und schliesslich kann man sie essen, sollte sie sich wider Erwarten vermehren.

 

Ich richtete der Schnecke im Garten einen Platz ein, damit sie genug Auslauf hat und frische Luft und nicht in der Wohnung hocken muss, wenn ich weg bin. Ansonsten teilt sie mit mir die Wohnung, nur das Schlafzimmer bleibt tabu, das hat sie auch akzeptiert.

Schon gleich zu Anfang zeigte sie sich zu meiner Überraschung als weltgewandt und äusserst gesprächig. Nach und nach aber wird es mir fast zu viel, denn meine Schnecke ist unterdessen, um es einmal so zu sagen, für mich zu einem schleichenden Vorwurf geworden, was meine eigene Lebensführung betrifft. 


Schnirkelschnecken,CC BY-SA 2.0


«Ihr Menschen glaubt,» machte mir meine Weinbergschnecke schon zu Anfang klar, «wir Schnecken seien Weicheier, nur weil wir Weichtiere sind und kein Rückgrat haben. Aber was ist schon ein Rückgrat? Das sind doch nur Knochen und Knorpel. Und wozu sollen Knochen gut sein? Knochen machen dich steif und verletzlich, wenn nicht gar stur und unnachgiebig. Nein, auf Knochen können wir verzichten. Wir Schnecken brauchen keine Knochen, die bricht man sich nur, von uns hat sich noch keine beim Schifahren ein Bein gebrochen.» 

Ich war ein wenig verwundert, dass meine Hausschnecke ausgerechnet das Beispiel Schifahren bemühte, um ihr knochenloses Dasein zu rechtfertigen. Das schien mir doch ein wenig weithergeholt, mir jedenfalls war noch nie eine schifahrende Schnecke begegnet. 

«Du meinst – meine Schnecke duzte mich von Anfang an, es gibt glaube ich in der Schneckenwelt gar kein Sie –, wir könnten nicht Schifahren, ich sehe es dir an. Da täuschst du dich aber gewaltig, wir haben das Gleiten doch geradezu erfunden, niemand gleitet besser als wir, wir brauchen dazu nicht einmal Schnee.» 

Nun gut, darüber wollte ich mit ihr nicht streiten, wie sollte ich ihr erklären, dass das, was sie Gleiten und Schifahren nennt, bei uns Menschen bestenfalls Kriechen genannt wird. Aber sie war noch nicht fertig, im Gegenteil, sie war gerade erst in Fahrt gekommen. «Ja, ich weiss schon,» fuhr sie fort, «ihr nennt uns «Schleimscheisser» und meint, uns damit zu beleidigen. Ihr habt ja keine Ahnung. Wir sind doch geradezu stolz, Schleimscheisser zu sein. Das ist für uns ein Kompliment. Schleim scheissen ist unsere ureigene Erfindung!» 

Und sie begann mir über ihren muskulösen Kriechfuss mit Gleitsohle zu erzählen, in dessem Innern eine Drüse ein Schleimband produziert, auf dem der Schneckenfuss durch Muskelkontraktionen dann gleitet. Ich verstand nicht alles, was sie an biochemischen Einzelheiten aufzählte, und was es brauchte, um die richtige  Konsistenz des Schleimes zu erzielen. Und obwohl ich auch nach dieser Belehrung an der Schnecke beim besten Willen nichts von einem Fuss wahrnehmen konnte, musste ich zugeben, dass mich ihre Fortbewegungsart zu interessieren begann. 

Ob denn so ein Schleimfuss auch für uns Menschen von Vorteil sein könnte, wir hätten bis jetzt nur Stinkfüsse und Schweissfüsse, fragte ich sie schliesslich, mehr aus Höflichkeit als aus Hoffnung, etwas für uns Menschen Nützliches zu erfahren. 


Nacktschnecke bei der Eiablage, karstenknuth 


Sie liess sich nicht zweimal bitten. 

«Sieht man das denn nicht, ist das nicht offensichtlich? Nur Menschen springen die Vorteile nicht sofort ins Auge,» begann sie wieder zu sticheln. 

«Wo soll ich anfangen? Fangen wir mit dem Treibstoff an, den ihr so mühsam aus der Erde pumpt und über die Weltmeere transportiert. Und dann hinterlässt ihr überall eure Ölspuren und Auspuffgase, widerlich. Wir aber brauchen kein Benzin, wir produzieren unseren Bio-Treibstoff selber, jeder so viel wie er braucht, hat einer gerade keine Lust Schleimstoff zu produzieren, bewegt er sich einfach weniger.»

«Wir brauchen auch keine festen Strassen,» fuhr sie gleich weiter, noch bevor ich etwas entgegnen konnte, es kam mir auch nichts in den Sinn. «Um uns vorwärts zu bewegen, legen wir zwar unsere Schleimspur, aber die bleibt nicht da liegen: wir scheissen Schleim und gleiten dahin und nach einer Weile ist nichts mehr zu sehen. Und ihr, was macht ihr? Ihr baut mühsam Strassen und überzieht die Erde mit Asphalt! Was für eine wahnsinnige Idee, nur Menschen kommen auf solche Ideen. Das kann doch auf die Dauer nicht funktionieren. Wie kann man auf die Idee kommen, die ganze Welt mit Strassen zu überziehen? Welch ein Grössenwahn, welch eine Selbstüberschätzung.» Ich wollte mich und die Menschen irgendwie verteidigen, aber ich kam nicht dazu.

«Die Menschen tun so, als wären sie allein auf der Welt und damit schaden sie nicht nur sich selber. Erst versiegeln sie alles mit Asphalt und betonieren alles zu und dann wundern sie sich, wenn es in den Städten immer heisser wird! Und die Luft immer stickiger. Ich krieche darum tagsüber schon gar nicht mehr in die Stadt, wie du weisst, viel zu heiss auf diesem Asphalt, da kann ich soviel Schleim scheissen wie ich will, ich werde gebraten. Und überall lässt ihr eure Häuser herumstehen. Wo keine Strasse ist, steht ein Haus! Und was für Häuser! Wie soll man die denn auf dem Rücken tragen? Und bis so ein Haus überhaupt einmal steht! Halbe Berge werden abgetragen und ganze Wälder, um eure Häuser und Strassen zu bauen. Was für ein Raubbau an der Natur! Was für eine Rücksichtslosigkeit! Wir produzieren den Rohstoff für unsere Häuser selber, und wenn wir wachsen, bauen wir eine Spirale dazu, das ist alles.»


 Weinbergschnecke, I, Pinky, CC BY-SA 3.0 


Das Gepolter und die Vorwürfe wurden mir langsam zu viel, ich suchte nach einer Entgegnung, nach Gegenargumenten, so einfach wollte ich es ihr nicht machen. 

«Ihr macht unsere Gehwege unsicher,» begann ich kleinlaut, es gibt ja Tage, besonders nach Regen, da gleite ich aus vor lauter Schnecken, die über den Weg kriechen, wo ist da eure Rücksicht und Besonnenheit? Und dann dieses unangenehme Geräusch, wenn man auf ein Schneckenhaus tritt,» aber ich brach ab, ich merkte, dass ich schwache Argumente hatte. 

«Du regst dich auf über das Geräusch, wenn du auf ein Schneckenhaus trittst, das finde ich gut, wie meinst du, wie es uns dabei geht? Aber wir ziehen den Kopf ein und bauen uns ein neues Haus. Aber auch darüber redet ihr herablassend. «Sich in sein Schneckenhaus zurückziehen» ist für euch etwas Negatives oder «Den Kopf einziehen wie eine Schnecke». Ja, was bleibt uns anderes übrig, wenn die Menschen daher stampfen wie Elefanten. Von wegen Rücksichtnahme und Feingefühl! Wir haben wenigstens unsere Fühler, was euch ganz abgeht, und das spricht nicht gerade für euer Fingerspitzengefühl!»  

 

Die vielen Ausrufezeichen verraten schon, dass sich meine Schnecke ziemlich in Rage redete. Und langsam begann ich sie zu begreifen. Sie machte mir immer mehr klar, wie herablassend wir Menschen über Schnecken sprechen, ohne auch nur im Entferntesten unsere vermeintliche Überlegenheit zu hinterfragen.

Gegenüber den Häusern, die sie mit sich herumtragen, hätte ich meiner Schnecke unsere Wohnwagen vorhalten können oder, noch besser, die Nacktschnecken, aber ich war mir nicht sicher, ob das gute Argumente waren, zum einen hielt sie selbst die Nacktschnecken für primitiv und unappetitlich, denn sie ernährten sich von Kot und Tierleichen, zum anderen musste ich ja zugeben, dass die Nacktschnecken gleich ganz auf Häuser verzichten und allenfalls in einem Erdloch Zuflucht nehmen, raumsparender ging es nicht.

Ich hätte ihr vorwerfen können, dass sie unsere Gärten verwüsteten, nichts selbst pflanzten, sondern sich an anderer Leute Nahrung gütlich machten. Aber auch das schien mir kein starkes Argument, angesichts der Tatsache, dass in einigen Ländern Weinbergschnecken als Delikatessen gehandelt werden und angesichts dessen, dass wir Menschen uns der Natur auch nicht gerade ohne Folgen bedienen.


Kopf einer Weinbergschnecke. Die Augen sind als dunkle Punkte erkennbar. Fornax, CC BY-SA 3.0. 


Dann kam sie noch auf den Begriff «Schneckenpost» zu sprechen, mit dem wir Menschen uns über ihre Langsamkeit lustig machen. 

«Wir sind für euch der Inbegriff von Langsamkeit und ihr tut so, als ob Langsamkeit etwas Lächerliches wäre. Wir bewegen uns vielleicht langsam im Raum, aber was heisst das schon. Verglichen mit der Geschwindigkeit, mit der die Erde sich um die Sonne dreht, sind auch eure Autos langsam. Dafür können wir uns in einer Geschwindigkeit vermehren, von der die Menschen weit entfernt sind. Eure Geburten sind kompliziert und ineffizient, ein Kind, wenn es hochkommt drei, und dann müsst ihr es monatelang herumtragen. Wir legen 40-60 Eier in ein Erdloch, jedes mit einer Kalkschale umgeben, das genügt. Und dann braucht ihr für dieses Geschäft auch noch zwei Geschlechter, sprich Mann und Frau, bei uns gibt’s weder Mann noch Frau, eure Diskussionen führen wir nicht, wir sind alle je nach Belieben Mann oder Frau. 


Kopulierende Weinbergschnecken, Janek Pfeifer, CC BY-SA 3.0


Aber schweifen wir nicht ab, wir waren bei der Geschwindigkeit; also, was heisst schon Geschwindigkeit und komme mir jetzt nicht mit dem Spruch dieses alten Schotten Adam Smith: «Zeit ist Geld». Geld ist kein Argument, wir haben kein Geld und leben trotzdem und ziemlich erfolgreich auf allen Kontinenten in 43000 Arten und Milliarden von Exemplaren, sogar im Meer leben wir und in den Seen, wie sieht es bei euch damit aus, könnt ihr unter Wasser leben? Und leben tun wir schon seit 500 Millionen Jahren, da waren noch nicht einmal die Vorläufer der Vorläufer eurer Spezies in Sicht.»

Und wieder hatte sie recht. Und weil auch die Schnecken ein kollektives Gedächtnis haben, konnte sie mir sehr Vieles aus jenen frühen Jahren unserer Erde erzählen, einer Erde ohne die Menschen.

Insofern hatte ich gutgetan, mir eine Schnecke zuzulegen. Es war mir beruflich sehr nützlich. Ich wurde auf den Lehrstuhl für Paläontologie und Schneckenkunde der Universität Zürich befördert. 

Also an alle, die noch Zweifel haben: Ich kann Ihnen eine Schnecke als Haustier nur empfehlen.