Der Ritterknabe Genius III 



Walther von der Vogelweide, Codex Manesse, Manessische Liederhandschrift, gemeinfrei


Der Ritterknabe ist ein friedlicher Knabe, das ganze Kämpfen und Waffenschwingen ist nicht sein Ding. Lieber spielt er Laute .

Darum wird er oft ausgelacht. Aber das wird sich finden, sobald er besser geworden ist, denn es gibt einige berühmte und beliebte Sänger, die durch das Land ziehen und singen und spielen. Und dann gibt es die grossen Könner, Walter von der Vogelweide war so einer, Burkhard von Hohenfels am Bodensee, die beiden sind schon verstorben, aber Kraft von Toggenburg, der lebt ja noch.

Ein Lied von Walter von der Vogelweide weiss er auswendig:



Die  grossen Könner singen von der grossen und unmöglichen Liebe, von Ehre und Mut und solchen Dingen. Das findet der kleine Ritter ja gut und schön, aber wenn er es dann mal kann, dann möchte er Lieder machen, die von der Natur erzählen, vom Leben auf dem Dorf, von den Tieren und Menschen. Aber das dauert noch. Ist noch ein langer Weg.

Beim Schreiber hat er lesen und schreiben gelernt, der Schreiber, das ist der, der aufschreiben muss, wer welches oder wieviel Land hat und wer wieviel abliefern muss. Die Burg lebt ja von den Leuten, und wenn die nicht liefern, muss man es holen. Aber dazu muss man wissen, bei wem und wo, darum die Listen. Der Schreiber hat ihm gezeigt, wie man Lieder macht, man kann da die Wörter nicht einfach so nebeneinanderstellen wie sonst, man muss die schönsten wählen und dann muss man schauen, dass es klingt, dass ein Schwung reinkommt. Und so muss man sie Zeile für Zeile aneinanderreihen und wenn man Glück hat, kann man es so hinkriegen, dass sich die Wörter am Schluss sogar reimen. Zum Beispiel wie Glück – Stück oder Stück – Brück und solche Dinge. Und dann muss man es schön aufschreiben, nicht einfach so hinschmieren, es gibt dafür Spezialisten, die im Kloster da hinter dem Wald, die können das, er hat es einmal gesehen. Wunderschön war das.


Manessische Liederhandschrift, gemeinfrei


Aber der Vater hat keinen Sinn für Laute und Lieder, er kann auch nicht lesen und schreiben, er kann nur befehlen und das Schwert schwingen, aber das kann er gut. Darum machen die Bauern, was er sagt, sonst gibt es Hiebe und Schläge, und wenn er eine Strasse will, dann machen sie sie halt, auch wenn sie gerade Kartoffeln ausgraben müssten, so ist das halt. Oben stehen die Pfaffen und Könige und Grafen und Ritter und unten die Bauern, so hat Gott es gewollt. Weiter unten gibt es auch noch Bettler und Landstreicher und Diebe, aber Gott bewahre, soweit soll es nicht kommen. 

Aber mit der Laute von Burg zu Burg ziehen und singen und spielen, das wäre schon was.

Aber daraus wird wohl nichts, er muss ja die Burg übernehmen.

 

Dafür wird jetzt seine kleinere Schwester ins Kloster Sankt Katharinental gehen. Sie wird dem Kloster zum Geschenk gemacht, was den Herrgott sicher freut. Ablatus oder im Falle der Schwester ablata nennt man ein Kind, das man dem Kloster schenkt, natürlich muss sie auch ein bisschen was mitbringen, ein Stück Wald oder bares Geld, Mitgift anders gesagt, es ist wie bei einer Heirat.

Nächste Woche wird sie gehen, zuerst der Sitter entlang, dann mit dem Boot auf der Thur, dann auf dem Rhein, bis sie nach Diessenhofen kommt, dort ist das Kloster. Was sie erwartet, weiss sie nicht, ist vielleicht auch gut so, sie ist noch ein Kind, und dass sie für immer weg geht und das Kloster nie mehr verlassen wird, sagt man ihr nicht. Dort wird sie dann beten und bitten, dass der Herrgott gnädig sei mit den Seelen ihrer Familie. So haben alle was davon, sie ist versorgt, und die Familie kommt in den Himmel. Und das wird sie so gut machen, dass sie in den Ruf der Heiligkeit kommt, aber das kann Genius nicht wissen, denn er sieht ja nicht in die Zukunft. Ja ihr wird das Jesuskind erscheinen und wenn das geschieht, wird sie so der Welt entrückt sein, dass sie nichts mehr hört und nichts mehr sieht und manchmal über der Erde schwebt. Bis es aber so weit ist, muss sie in sich gehen, muss sie Schmerzen und Krankheit ertragen. 

Wenn die Schwester weg ist, wird es noch langweiliger werden auf der Burg. Denn viel passiert nicht, es ist nicht wie in einer Stadt. Die Burg steht abgeschieden auf einem Felsen im Wald, da versteckt man sich ja praktisch vor den Menschen. Man kann nicht eine Burg hoch auf einen einsamen Felsen bauen und dann leben wie in einer grossen Stadt.  


Christus-Johannes-Gruppe. Fragment aus dem Graduale von St. Katharinental. Unbekannter Künstler, wahrscheinlich Konstanz.

 St. Katharinental bei Diessenhofen, 1312, Schweizerisches Nationalmuseum Zürich.


Aber er war schon in der Stadt, mit dem Vater und seinen Knechten, und einmal haben sie auf der Kreuzbleiche das Leinen von der Bleiche geholt, weil die Kaufleute nicht zahlen wollten, was der Abt verlangte. Das war vielleicht ein Spektakel. In der Stadt steht ein Haus neben dem andern, kaum dass Platz genug da ist, um zu zweit nebeneinander zu reiten. Ist auch überall alles versperrt, überall arbeiten Handwerker, die Küfer und die Weber und Metzger und Pfister, sprich Bäcker. Und überall wuseln Menschen herum und dazwischen auch ein paar Schweine, und wenn es regnet ist da ein Dreck, kann man sich ja vorstellen. Nicht vorstellen konnte er sich, bis er es sah, dass die Leute ihren Dreck aus dem Fenster auf die Strasse leeren, Nachthäfen inklusive.

Und dann auf dem Marktplatz, es gibt nichts, was es da nicht gibt, wenn Markt ist. Und gleich daneben wird mit Leinen gehandelt, mit Kleidern und Schuhen. Auch im Kloster war er schon, da hat er die Schreibstube gesehen. Das war das Beste von allem. Wie die da ganze Bögen vollschrieben, Buchstabe für Buchstabe und schön ausgerichtet einer neben dem andern, nicht einfach so hingeschmiert. Wunderschön war das. Und auch singen können sie wie nur was, er hat es in der Kirche gehört, die Kirche war wie ein tönender Bauch, er hat beim Zuhören fast das Atmen vergessen.