Der Ritterknabe Genius (II)



Sie kommen heimgeritten von einem Ausflug durch Flur und Wald, wo sie geschaut haben, ob alles in Ordnung ist, und die Leute auch schaffen. Es ist nicht leicht in die Burg zu kommen, aber das ist der  Sinn der Sache, darum ist es ja eine Burg, sie soll die Leute fernhalten nicht anziehen. Erst muss man einen Wall überwinden, dann den Berg hoch kraxeln, denn die Burg steht auf einem Felsen und dann ist da noch der Graben, den man nur über eine Brücke überqueren kann. Und die zieht man hoch, wenn Feinde kommen. Dann kommt man in den Hof, rundherum sind Schuppen und Ställe, gebaut für Pferde und Kühe und Schafe. Hunde kommen gerannt, eine ganze Meute, grosse Doggen und die kleinen Dachshunde, ein Hundedurcheinander. Wachtposten stehen herum und gähnen, wenn der Burgherr es nicht sieht, Mägde, Knechte gehen hin und her und arbeiten oder auch nicht, sie werden das Gesinde genannt, auch Gesindel ist darunter. 



Der Ritterknabe Genius steigt vom Pferd und geht zum Brunnen, der tief in den Boden reicht. Den hat man gegraben, bevor die Burg gebaut worden ist, ohne Wasser macht eine Burg keinen Sinn, wenn man nichts zu trinken hat, nützen auch dicke Mauern nicht viel. Er zieht am Seil, der Eimer kommt hoch, er schöpft Wasser mit der Kelle. Der Eimer ist neu, die Kelle ist alt, mit der hat schon sein Grossvater getrunken. 

Dann setzt er sich unter die grosse Linde im Hof. Sie blüht gerade und riecht darum gut, das kann man gebrauchen bei all dem Gestank von den Ställen. Er zieht den ledernen Brustpanzer aus, die Beinschienen aus Blech und schmeisst alles auf einen Haufen, ein Knecht soll es putzen und in die Rüstkammer tragen. Dort liegen die Waffen, Dolche, Armbrüste, Schwerter und all das andere Eisenzeug, mit dem man die Leute einschüchtert. Bei den Bauern gelingt das ja, die dürfen keine Waffen tragen, aber die anderen Ritter haben das gleiche elende Zeug, da könnte man gerade so gut darauf verzichten, denkt unser Genius, und einen Ringkampf machen, einen Hosenlupf, wie die Bauern sagen. Aber dann wären die Bauern wieder im Vorteil. 



Zum Mittagessen gibt es Brot und Mus aus Kraut und Rüben und vielleicht ein Stück Fleisch. Das Fleisch ist nicht immer ganz frisch, aber der Pfeffer überdeckt den Gestank. Der Pfeffer kommt von den Pfeffersäcken, die in holen aus Indien, das ist weit weg, unvorstellbar weit. Sie gehen da hin und holen ihn und verdienen damit ein Heidengeld, darum nennt man sie Pfeffersäcke. Es sind Leute aus der Stadt. Mit denen müsste der Vater sich zusammentun, aber der Vater versteht das nicht, er ist noch vom alten Schrot und Korn, ihm genügt seine Ritterehre.

Der Koch ist ein Bursche aus dem Weiler mit Namen Bernhardzell, der hütete zuerst Gänse, dann Schafe, dann Pferde und nun ist er Koch und nennt sich auch so, aber er flickt auch Kleider und Waffen und kann eigentlich alles. Aus dem wird noch was, sagt der Vater, vielleicht ein Schreiber. Na gut, kochen ist vielleicht nicht seine Stärke, aber: Mus ist Mus, man wirft Gemüse in einen Topf und kocht es zu Brei, was will man anderes machen. Einmal hat der Koch mit Namen Koch ein Mus aus Haferflocken, Bienenhonig, Äpfel und Milch gemacht, er nannte es Birchermüesli. Aber da war er seiner Zeit voraus, ausser dem Ritterknaben Genius hat es niemand gegessen.


Manessisches Liederhandbuch,  Ulrich von Lichtenstein, Hartmann von der Aue.


Warum seine Familie etwas Besseres ist, versteht der Ritterknabe auch nicht recht. Auf jeden Fall ist es so, daran besteht kein Zweifel, mit den Bauern kann man sie schon gar nicht vergleichen, sie sind Menschen zweiter Klasse. Sein Vater ist ein Ritter und der Ritterknabe wird bald ein Ritter sein. Und was ist ein Ritter? Ein Ritter ist jemand, der ein Pferd hat, um damit durch die Dörfer zu reiten oder in den Krieg zu ziehen. Und sein Vater hat ein Pferd, so einfach ist das. Und die Bauern, das sind die, die die Ritter ernähren; auch sie haben vielleicht ein Pferd, aber zum Arbeiten nicht zum Reiten. Und das Land, auf dem sie arbeiten, haben sie vom Vater, und der hat sein Land vom Fürsten, und der hat es vom König, und der König hat es vom Herrgott persönlich, auch das liegt auf der Hand. Wer wollte es bezweifeln. Kurz und gut: Der König ist König von Gottes Gnaden, und der Vater ist Ritter von des Königs Gnaden, so etwa könnte man es sagen. 

Damit man in des Königs Gnaden bleibt, muss man auch was tun, zum Beispiel Streit schlichten unter den Bauern oder für den König in den Krieg ziehen. Und damit man in Gottes Gnaden bleibt, dafür kann man Verschiedenes tun, zum Beispiel ein frommes Leben führen, viel beten und den Armen helfen. Aber das ist nicht gerade das, was der Vater am liebsten macht, er hält sich mehr ans Schwert und ans Kriegshandwerk.



Was der Vater alles besitzt, weiss der Ritterknabe auch nicht recht, auch der Vater nicht, am besten weiss noch der Schreiber Bescheid, der kann in seinen Listen blättern, in den Schenkungs- Tausch- und Kaufurkunden. Das kann der Vater nicht, er kann nicht lesen und schreiben. Wozu denn auch, dafür hat er seinen Schreiber. In den Listen steht, wie viele Fischweiher, Wiesen, Obstgärten der Vater hat, und wie viele Mühlen, Wälder und Menschen. 

Unser Ritterknabe wird das besser machen, das ist ihm jetzt schon klar, so geht das nicht, so wie der Vater wirtschaftet. Jetzt ist das doch ein einziges Durcheinander. Jetzt hat man einen Hof ennet dem Bodensee und einen Hof dort im Toggenburg in den Bergen, und wie soll man die kontrollieren. Die machen doch da, was sie wollen. Nein, nein so geht das nicht, man muss das Land zusammenlegen. So schwierig kann das doch nicht sein, man tauscht ein bisschen und streitet ein bisschen und klaut, wenn nötig, noch etwas. Bis die andern das merken, ist es doch schon zu spät, die wissen doch selber nicht, was ihnen alles gehört. 

Man muss sich ein zusammenhängendes Territorium schaffen, so würde der kleine Genius das nennen. 

Aber auch da ist der Ritterknabe Genius seiner Zeit voraus, erst die Habsburger und die Grafen von Rapperswiler beginnen das langsam zu begreifen. Und dann müsste man beginnen, mehr Wald zu roden, um Weidefläche zu schaffen, damit man mehr Tiere halten kann, das Fleisch kann man in die Städte verkaufen. Aber der Vater begreift das nicht, er lebt von der Hand in den Mund, das heisst ist zufrieden mit seiner Jagd und seinen Pferden. Jetzt spielt er doch nur den Vogt für den Abt und lässt sich von ihm dahin und dorthin schicken, damit er zum Rechten schaut, wenn die Untertanen nicht tun, was sie sollen. Der Abt oder die Mönche können das ja nicht selber tun, als Gottesmänner sich mit den Bauern und Handwerkern herumschlagen.