Peter-Boy,

ein Hundeleben




1

 

Der Hund mit Namen Boy wurde in einer sternenklaren Nacht auf einer Alp im Tessin geboren. 

Seine Mutter Antuca hatte sich in einen Stall zurückgezogen, in die hintere Ecke, wo altes Heu lag und Stroh. Dort legte sie sich hin und wartete auf ihre Stunde, die um vier Uhr morgens begann. Innerhalb einer Stunde bekam sie fünf Hundebabys. Das heisst, die Hündin hatte sie natürlich schon vorher in ihrem Bauch getragen, zwei Monate lang. 

Die Hundemutter hatte keine Erfahrung, es war das erste Mal, dass sie Junge bekam. Trotzdem wusste sie, was zu tun war. Sie begann, die Jungen sauber zu lecken und 

aus der Hülle zu befreien, die sie umschloss. Und auch 

die Babys wussten, was zu tun war, und begannen zu piepsen und – mit geschlosse­nen Augen – nach der Milch der Mutter zu suchen. 

 

*

 

Das Licht der Welt erblickte Boy aber erst nach zwei Wochen, als er zum ersten Mal die Augen öffnete. Er sah nicht viel, im Stall war es dunkel und seine Augen waren noch trüb. Was er sah, waren seine vier Ge­schwis­ter, unförmige zappelnde Dinger und seine Mutter, die ihm riesengross erschien, weil er selber noch so klein war, nämlich 20 Zentimeter gross. Aber er und seine Geschwister wuchsen rasch, man könnte fast sagen, sie wuchsen so rasch wie junge Hunde, aber sie waren ja auch junge Hunde.

Es ging überhaupt vorwärts. Nachdem sie die Augen geöffnet hatten, war es, als gingen ihnen auch die Nase und die Ohren auf. Und zu hören gab es viel, zum Beispiel die Geräusche, die die Schafe im vorderen Teil des Stalles machten. Und auch zu riechen gab es viel, vor allem den süssen Geruch der Milch und der warme Geruch der Mutter.  

 



*

 

Die jungen Hunde wurden grösser und grösser und auch die Welt wurde langsam grösser für Boy und seine Geschwister. Sie begannen ihre Beine zu benutzen und machten sich auf, ihre Umgebung auszukundschaften. 

Der Boden war mit groben Brettern und Bohlen ausgelegt, da und dort gab es Stroh und altes Heu, Stricke lagen herum, Fetzen von Jutesäcken, verlassene Hüte-Stecken, an denen man zerren, die man überfallen und bekämpfen konnte. Fast immer gewannen die Hundewelpen. Glaubten sie jedenfalls. 

 

*

 

Die Hundewelpen sahen aus wie Hundewelpen aussehen, rund und flauschig und tollpatschig. Sie patschten und tollten herum und fragten sich, warum sie so kugelrund waren, wo doch ihre Mutter schlank war und ihre Schnauze spitz. Sie aber hatten alle eine Stupsnase und Pausbacken und Tatzen, als würden sie warme Finken tragen. 

Die Mutter Antuca hätte ihnen sagen können, wenn sie hätte sprechen wollen, dass das bei Kleinkindern immer so ist, sogar wenn sie Menschen sind. 

 

*

 

Die eine Hälfte des Stalles war mit Brettern und Latten versperrt. Dort machten es sich die Schafe gemütlich, wenn sie nicht auf der Weide waren. Seltsame Wollknäuel, die eine seltsame Sprache sprachen. Fast hätte man es blöken nennen können. 

Die Schafe hatten es den jungen Hunden angetan, aber es war nicht leicht, zu ihnen zu kommen, die Welpen konnten nur durch die Spalten zwischen den Latten spähen. Aber dann fand Boy ein Loch, das gross genug war, um sich hindurchzuzwängen.



Das heisst, er wollte sich nicht hindurchzwängen, so viel Mut hatte er nicht, aber seine Geschwister hinter ihm zappelten und schupsten, und schon war er durch das Loch zwischen die Schafe gefallen. 

Die Schafe machten erschreckt zwei, drei Sätze zur Seite, aber dann kamen sie wieder näher und umringten ihn. Sie senkten die Köpfe, und er spürte ihren Atem und ihre feuchten Mäuler und Nasen auf seinem Fell. Sie merkten bald, dass er ein kleiner Hund war und liessen ihn in Ruhe.

Antuca aber, die Mutter von Boy, kaum hatte sie verstanden, was passiert war, setzte mit einem Satz über das Gatter und landete mitten zwischen den Schafen. Bevor die Schafe merkten, was geschah, hatte sie den kleinen Boy im Nacken gepackt und war mit ihm zwischen den Zähnen wieder über das Gatter gesprungen. Dann jagte sie die ganze Welpenschar zurück in ihre Ecke. 

 

*

 

Die Jungen wuchsen und wuchsen und fühlten sich pudelwohl, obwohl sie keine Pudel waren. 

Der Hund Boy hatte ein schwarzes Fell mit weissen und braunen Flecken, aber das wusste er nicht, er kannte die Farben nicht, er sah als Hund keine Farben, nur hellere und dunklere Stellen.

Seine Mutter war eine Border Collie Hündin und sein Vater ein Border Collie Hund. Vom Vater hatte er seine herrliche Bellstimme und von seiner Mutter die Sprungkraft und die geduckte Haltung.



Immer noch waren die Welpen kugelrund und flauschig und hatten patschige Pfoten. Aber sie wurden immer geschickter, hielten sich besser auf den Beinen, konnten besser klettern und miteinander kämpfen und spielen. Tagsüber waren sie draussen, und da wurde die Welt nun richtig gross. Da waren nicht nur die Mutter und die Schafe, da draussen war die grosse weite Welt, zum Beispiel Sauen, die in der Erde wühlten und lustige Geräusche machten und Menschen, von denen sie zu fressen kriegten, Fleisch und Kartoffeln und Jogurt. Und dann war da noch ein ganzer Haufen grosser mächtiger Tiere, die auf den Weiden grasten, mit riesigen Beinen 

und riesigen Köpfen und gewaltigen Schwänzen, vor denen man sich in Acht nehmen musste, sonst kriegte 

man eins geschmiert.

Doch diese Tiere, so gross wie Berge – die jungen Hunde konnten es kaum glauben –, hatten Respekt vor der Mutter Antuca, sie gingen ihr aus dem Weg, wenn sie auftauchte. Vor den Kleinen hatten diese Tiere, die sich Kühe nannten, keine Angst. Sie rannten nicht davon, wenn die Kleinen auf sie los gingen, um sie zu vertreiben, wie die Mutter es tat. Boy hatte es einmal versucht, aber die Kuh war einfach stehengeblieben und hatte den Kopf gesenkt. Sie hatte ihn angeschnauft mit ihren riesigen Nüstern und dann hatte sie ihn mit ihrem Maul zur Seite geschubst. 

Das Maul dieser Tiere war feucht und kalt wie eine Hundeschnauze, obwohl es Kühe waren. Boy hatte sich ein wenig geschämt und so getan, als wäre er selber zur Seite gesprungen.

Fortsetzung folgt



2

 

Wenn es schön war, spielten die jungen Hunde draussen, übten das Anschleichen und Zubeissen oder rollten einfach einen Abhang hinunter. 

Aber es gab auch Tage, da schlich der Nebel über die Hänge, und alles war trüb und verhangen. Ein richtiges Hundewetter, wie die Menschen sagten, keine Ahnung wieso sie dieses Wetter Hundewetter nannten. 

Manchmal regnete es tagelang. Sie gingen dann nicht nach draussen und spielten mit den jungen Schafen. Schlimm war es, wenn es blitzte und donnerte, die Felsen und Hänge verstärkten den Lärm. Dann verkrochen sie sich im Heu, rührten sich nicht und warteten, bis alles vorbei war. 

Der Hund Boy wusste noch nicht, dass dieses Donnern und Hämmern ein Vorbote war für ein Ereignis, das zur grössten Katastrophe im Leben von Boy werden sollte. Aber so weit sind wir in der Geschichte noch nicht. 



Mit der Zeit lernten die Hundewelpen von ihrer Mutter, wie sie mit den Kühen und Schafen umgehen mussten. 

Wenn am Morgen die Herden loszogen, ein Tier hinter dem andern, um an die Hängen und Alpweiden zu gelangen, wo gute Gräser und Kräuter wuchsen, gingen sie mit und schauten der Mutter zu, wie sie Kühe weitertrieb, die stehen blieben und sich von der Herde trennten. 

Sie versuchten es dann ebenso zu machen, aber die Kühe hatten keine Angst vor ihnen und blieben einfach stehen.

Den ganzen Tag waren die Kühe und Schafe damit beschäftigt, zu fressen und wiederzukäuen, wie konnte man nur so verfressen sein. 

Da waren die Hunde ganz anders, sie bekamen nur am Morgen und am Abend zu fressen. Nun gut, wenn sie zwischendurch etwas erwischten, hatten sie auch nichts dagegen. 


Sophie 95


Wenn die Kühe am Weiden waren, beschäftigen sich die jungen Hunde mit anderem, zum Beispiel mit Mäusegängen, die sie aufgraben konnten, oder mit den Bergdohlen, die ihre Kurven drehten und frech zwischen ihnen landeten. Denen jagten sie dann nach und vertrieben sie wieder mit Gebell und Getöse. Boy kam sich dann mutig vor und stark.

Am Abend waren sie immer hundemüde. Wie es sich für Hunde gehört. 



Für Hund Boy gab es verschiedene Welten. 

Da gab es die Welt, die er sah. Sie war nicht so farbig, wie die Welt, die die Menschen sehen. Rot sah für ihn zum Beispiel wie Gelb aus, aber Blau konnte er erkennen. Das Grün der Wiesen war für ihn eher grau, es gab auf der Welt viele Stufen von Grau. In der Dunkelheit sah er ziemlich gut, sein Auge reflektierte das wenige Licht, das es gab. Er sah auch gut, was links und rechts von ihm war, man könnte fast sagen, er hatte auch Augen am Hinterkopf. Oder Weitwinkel-Augen. 

Dann gab es die Welt der Töne. 

Er lernte schnell, Geräusche zu unterscheiden. Das Geräusch, wenn sein Fressnapf mit Futter gefüllt wurde, hörte er aus allen Geräuschen heraus. Seine Ohren waren sehr beweglich, er konnte sie in alle Richtungen drehen, sie saugten Töne auf wie ein Staubsauger. Vor allem hohe Töne hörte er gut, viel besser als die Menschen, die eigentlich gar nichts hörten. Kein Wunder brauchten sie Hörgeräte.

Dann gab es die Welt der Gerüche. 

Das war die Welt, die ihn am meisten faszinierte. Überall gab es Gerüche, alle möglichen Gerüche. Er musste nur die Nase in die Luft, auf den Boden oder an die Sträucher halten, und schon wusste er Bescheid. Das war wie Zeitung lesen: Was ist passiert, was gibt es Neues, wer ging vorbei. Davon hatten die Menschen keine Ahnung.

Man könnte es ihnen so erklären: Wenn man die Gerüche sehen könnte, hätte jeder Geruch eine andere Farbe. Und diese Farben vermischen sich und hängen in der Luft wie Nebelschwaden.

 

Der Geruch der Mutter vermischt sich mit dem Geruch der Schafe und mit dem Geruch eines Wanderers, der vor ein paar Stunden vorbeigezogen ist. Und wenn die Gerüche frisch sind, sind die Farben stark, und wenn die Gerüche schwach sind oder alt, sind die Farben blass. Boy lernte die Gerüche zu unterscheiden und richtig einzuschätzen, nach und nach.