Schutzengel



Ich gehe an einem Spielplatz vorbei, wo sich die Kinder auf dem Klettergerüst vergnügen, während ihre Mütter und Väter auf den Bänken sitzen und sich unterhalten oder das Handy konsultieren.  

Schon erstaunlich, wie die Kleinen klettern und sich festhalten und kopfüber an den Seilen hängen, ohne dass etwas passiert.

Wäre ich der Vater, müsste ich immer danebenstehen, absichern, warnen. Dann denke ich daran, was ich selber alles gemacht habe als Kind. Auf dem Schulplatz oder im Wald. Kinder haben tausend Schutzengel, sagt man, oder mehr Glück als Verstand.

Und ich denke an einen kleinen Jungen, der in Bolivien im Dschungel durch eine Siedlung rennt mit einem Messer in der Hand. Der Junge ist fünf Jahre alt. Das Messer ist so gross wie sein Arm. Splitternackt rennt er durch die Siedlung und fuchtelt und schreit. Er schlägt auf die Sträucher ein, auf das Holz, das am Boden liegt, so wie es die Männer mit ihren Macheten tun, wenn sie durch den Dschungel gehen.

Dann rennt er hinter einem Mädchen her und droht ihr mit dem Messer. Das Mädchen lacht. Das Mädchen klettert auf einen Baum, immer höher, mühelos. Der kleine Junge kann ihm nicht folgen. Es winkt vom Gipfel herunter; wenn es runterfällt, bricht es sich Hüfte und Beine.

Aber es fällt nicht herunter. Und der Junge fällt auch nicht hin. Es gibt auch keine Erwachsenen, die sich Sorgen machen. Sie lachen, als sie den Kleinen mit dem Messer fuchteln sehen.


 

Aniflur, '20


Ich denke an den Jungen und von einem Moment auf den andern bin ich wieder in Bolivien und habe das Dschungelgrün vor Augen, die auffliegenden Vögel und eine Hütte, die gar keine Hütte ist, nur ein Gerüst mit einem Dach aus Palmenblättern und einem Holzgestell darunter und ich sehe die Frau, die sich von einem Holzgestell erhebt, während ihr Kind liegen bleibt und sich hin und her wälzt im Fieber. Ich fahre wieder mit dem Boot den rotbraunen Fluss hinauf, stundenlang, bis ich dann als erstes auf die Hütte treffe, die keine Hütte ist, mit einer Frau, aus deren Augen der Hunger starrt. Und weiter den Fluss hinauf, stundenlang, links und rechts die dunklen Wände des Dschungels, bis zu einer Siedlung, in der ich dann auf den Jungen mit dem Messer treffe, der, wenn er mit dem Messer hinfällt, verbluten kann; es sind fünf Stunden mit dem Boot bis zum nächsten Arzt.