Mein Vater

+ Giacometti


Alberto Giacometti (CH 1966/1968), Dokumentarfilm mit der Musik von Armin Schibler.



Über Giacometti hätte ich gern einmal etwas geschrieben, schon weil er meinem Vater gleicht, wenigstens in meinen Augen. 

Vor allem über Giacomettis Köpfe gäbe es einiges zu sagen, die gemalten und gezeichneten und mit Ton geformten, die letztendlich immer seinem eigenen Kopf gleichen und somit dem meines Vaters. Vielleicht ganz einfach deshalb, weil am Ende alle Köpfe allen gleichen, wenn man genau hinschaut. Während ich das hier so sage, kommt mir ein Foto vor das innere Auge, das Giacometti an einem Tisch vor einem Bistro zeigt. Er sitzt da, wie mein Vater dagesessen hätte, wenn er in Paris an einem Tisch vor einem Bistro gesessen und geraucht und Kaffee getrunken hätte, was er nie getan hat, ich meine in Paris Kaffee getrunken. Geraucht hat er schon. Er hätte dann auch die Beine übereinandergeschlagen wie es Giacometti tut auf dem Foto und hätte über den Brillenrand auf die Leute geschaut, die vor ihm über den Platz gehen. Die, wenn sie weit genug weg sind, nur Striche sind, wie Giacometti meinte. Und das ist ja auch wahr, wenn man sich den ganzen Raum dazu denkt, den ein Mensch umgibt, da bleibt von einem Menschen nicht mehr viel übrig. Nein, in Paris war mein Vater nie, aber er hat Parisienne geraucht, auf deren gelber Packung die Abbildung einer Frau war, ich nehme an einer Pariserin. Und er hat die Zigarette so gehalten wie Giacometti sie hielt, aber noch öfter hat er sie gar nicht aus dem Mund genommen, hat sie in den rechten Mundwinkel geschoben und hat durch den Rauch auf die Leute geschaut, vielleicht sahen sie dann aus wie Striche. 



Mein Vater und Giacometti gleichen sich auch, wenn sie dastehen, so ein bisschen knochig und hager und mit schiefen Schultern. Das haben sie mit vielen Männern ihrer Generation gemeinsam, die halt so dastanden in ihren Tschopen, aus deren Taschen sie dann die Zigaretten holten oder die Brille oder das Taschentuch. Das Portemonnaie nicht, das trugen sie in der rechten hinteren Hosentasche.

Über Giacometti hätte ich gern einmal etwas geschrieben. Ich habe es schon versucht, aber ich vertue mich immer, weil ich immer zu viel und alles auf einmal sage. Und dann muss ich wieder alles zusammenstreichen. Das ist Giacometti auch eine Zeitlang passiert, ich glaube in den 1940er Jahren. Da hat er an seinen Figuren so lange herumgeknetet, bis von ihnen nicht mehr viel übrigblieb. Und das ist natürlich nicht gut, die Leute wollen ja etwas für ihr Geld und deswegen kann man grosse Figuren besser verkaufen. In den 1940er Jahren kam für meinen Vater der Marschbefehl, aber er musste dann doch nicht marschieren, wegen des Rückens. Sein Gewehr durfte er trotzdem behalten. Giacometti hat seinen Vater gemalt, aber noch öfter seine Mutter. Seine Mutter hat er oft gemalt, immer wieder und noch einmal muss man sagen, er hat überhaupt am liebsten immer die gleichen Menschen gemalt und gezeichnet. Oft hat er seine Mutter auf einem Stuhl am Tisch in der guten Stube in La Stampa gezeichnet, meistens mit einer Handarbeit. Die Hängelampe ist auch immer auf dem Bild. Manchmal hat er nur die Hängelampe gezeichnet. Und als die Mutter dann starb, hatte er alles noch einmal gezeichnet, die Lampe, den Tisch und den Stuhl, der verwaist war. Meine Mutter ist, wenn sie am Abend in der Stube sass, neben dem Kachelofen gesessen, auch manchmal mit einer Handarbeit, aber lieber hat sie gelesen. Und der Vater hat sich in der Mittagspause mit der Zeitung auf das Sofa gelegt und ist dann fast sofort eingeschlafen. Auch er ist, nachdem er gestorben war, über den Mittag nicht mehr auf dem Sofa gelegen. 


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In unserer Stube hing die Gotthardpost, die war nicht von Giacometti, auch nicht von seinem Vater oder von seinem Onkel, denn Giacometti war ja ein Künstlerkind, un figlio d’arte, wie man auf Italienisch sagt. Das würde dann aber übersetzt nicht etwa ein Sohn aus einer Künstlerfamilie heissen, sondern ein Sohn der Kunst. Das tönt besser. Das Bild war von Koller und als er die Postkutsche malte, wie sie den Gotthardpass hinunterrast, war sie schon arg in Bedrängnis, die Kutsche, da war man schon dabei, den Tunnel für die Gotthardbahn zu bauen. Mein Vater war ein Bauernsohn wie Giacomettis Mutter eine Bauerntochter war, aber meine Mutter war eine Stickerin wie ihr Vater, also eine figlia d’arte. 

Jetzt kommt mir noch in den Sinn, dass Giacometti die Dinge beim Zeichnen und Malen wie aus der Wirklichkeit ausgeschnitten hat. Zum Beispiel hat der Tisch in der guten Stube in La Stampa im Bergell manchmal nur halbe Beine, als hätte der Tisch den Boden unter den Füssen verloren und würde nun durch die Stube schweben. Den Holztisch in der Küche in Bernhardzell hat mein Vater auch immer wieder gemalt, mit weisser Farbe, der Tisch war schon alt und seine Füsse schon arg zerschlagen. Dann später hat man die Tischplatte einmal im Jahr mit farbiger Selbstklebefolie überzogen, dazu musste man die Seitenleisten der Tischplatte entfernen. Die Seitenleisten aus Holz bildeten also den Rahmen, den Rahmen um die farbige Selbstklebefolie. Die Folie hatte jedes Jahr ein anderes Motiv, ich erinnere mich an die Köpfe von Sonnenblumen. Giacometti rahmte seine Bilder auch ein, er malte sogar Rahmen um die Menschen und Dinge auf seinen Bildern, sie brauchten ein Gehege, einen Zaun, sonst wären sie verloren gewesen.



Mein Vater war nie in Paris, aber meine Eltern waren einmal in den Ferien in Lungern. Ich glaube, da war Giacometti nie, aber es hätte ihm gefallen, ist nicht so verschieden von La Stampa, obwohl es auf den ersten Blick so ausschaut, aber auf den ersten Blick verliess Giacometti sich nie, er hätte die Berge um Lungern so lange gemalt und gezeichnet, bis sie ausgeschaut hätten wie die Berge in La Stampa. Denn Berge sind Berge und was ein Berg ist, ja, das weiss ich auch nicht, das müsste man Giacometti fragen. Etwas, das dasteht und die Wolken aufhält. Aber das hätte er nicht gesagt, er hätte vielleicht die wankelmütigen Farben erwähnt, die unsteten rastlosen flatterhaften oder dass die Berge auch nur Striche sind, die den unermesslichen Raum durchqueren. Und dann hätte er sie wieder gemalt und gemalt, immer wieder dasselbe, weil das, was er sah, immer wieder etwas anderes war, so lange, bis es dann etwas Besonderes war. Wir waren nie in La Stampa, aber wir gingen immer wieder in den Alpstein, der auch immer wieder anders war. Und einmal konnten wir in einer Alphütte unterstehen. Der Älpler hat über offenem Feuer in einem Kessi die Milch erhitzt und Käse gemacht. Das war auch etwas Besonderes. Nicht nur wegen dem Käse, sondern weil draussen ein Unwetter tobte, und wie das in den Bergen kracht, das muss man erlebt haben. Der höchste Berg im Alpstein ist der Säntis, er wird in der Werbung einfach Der Berg genannt.

 



Jetzt möchte ich nochmals etwas über das Rauchen sagen und den Strichen, zu denen die Menschen werden. Wenn Giacometti zeichnete, wurden die Dinge auch fast schon zu Rauch, auf jeden Fall scheinen sie zu verschwimmen, sich aufzulösen in der Luft oder im Raum. Zum Beispiel Häuser oder Äpfel. Da musste er dann immer noch mehr Linien ziehen oder Striche, Striche, die sich kreuzen und durchqueren, damit sie Gewicht und Substanz bekamen. Kreise hat er auch gerne gemacht, hat alles eingekreist und eingekreist, Augen zum Beispiel. Ich erinnere mich, dass ich als Kind auch gern Kreise malte, Kreise über Kreise, bis man nichts anderes mehr sah. Mein Vater hingegen hat die Farben in sauberen Bahnen aufgetragen, Schicht über Schicht, er hat ganze Wände damit bemalt, ganze Häuser oder Brückenpfeiler. Da standen sie dann wieder da, stabil und vertraut und verlässlich, die Wände, die Brücken, die Häuser. 

Und zum Schluss noch etwas zu den Gesichtern, die Giacometti immer wieder malte, beziehungsweise betrachtete, so zu sagen meditierte, immer wieder die gleichen, um endlich dahinter zu kommen, was hinter ihnen steckt. Das hat meine Mutter auch getan, nämlich versucht zu verstehen, was hinter den alltäglichen Erscheinungen steckt, wenn sie in der Kirche zum Heiligen Antonius oder der Maria betete. Nicht dass sie dann eine Erscheinung hatte, dafür war sie zu nüchtern veranlagt, aber sie hat dann vielleicht auch gesehen, was nicht alle sahen, wenn auch vielleicht nur ein Zipfel, zum Beispiel ein Zipfel Hoffnung.  Als dann der Vater aufgebahrt war, hat sein Gesicht noch mehr den Gesichtern von Giacometti geglichen. Zu der Zeit als Giacomettis Figuren immer kleiner wurden, hat auch er einen Toten von nahe gesehen. Seit diesem Moment hat er Gesichter anders gezeichnet.