Kleiner Streifzug

 



Robert oder Bob, wie ihn seine Freunde nennen, ist definitiv eine Nummer für sich.

Seit er wieder in Biel ist, treffen wir uns oft. Vorgestern spazierten wir den Fluss entlang, die Sonne im Rücken. Bob sagte lange Zeit nichts. Er redet nicht viel, wenn er wandert. Aufmerksam schaute er alles an, bald einen Baum, bald eine Wiese, bald einen Menschen. 

«Wie grün das Land ist und wie friedlich das Wasser», war das Erste, was er sagte. Er hatte recht, das Land war grün. Was sollte ich dazu sagen? Aber er erwartete keine Antwort. Wir gingen weiter, ohne Eile. Manchmal kamen uns Leute entgegen und wünschten Guten Abend. Manchmal sahen wir Kinder spielen. Am Flussufer waren allerlei Leute mit allerlei Arbeiten beschäftigt.

«Wie gemütlich ihre Hantierungen sind,» sagte er. Ich schaute mich um. Die Leute mähten Schilf und waren damit beschäftigt, es in grossen Haufen am Flussufer aufzuschichten. Ich weiss nicht, ob die Leute es gemütlich fanden. Wir gingen über eine Brücke auf die andere Seite des Flusses und wanderten zurück, der Abendsonne entgegen. Alle höher und niedriger gelegenen Häuser glänzten in der Abendsonne.

«Das Grün der Wiesen scheint zu lächeln und zu reden.» sagte Bob. Ein Wiese, die redet und lächelt! Ich schaute ihn fragend an. Wie meinte er das? Nahm er mich auf den Arm? «Was ist mit dir, fragte ich ihn, ist dir nicht gut. Sollen wir uns setzen?» Wir setzen uns auf eine Bank, nahe am Flussufer. Wir schwiegen, schauten uns um. Da war der Fluss, da waren die Häuser, alles war an seinem Platz. Ab und zu kam jemand vorbei und grüsste.

«Fühlst du denn nicht,» sagte er unvermittelt, «wie sich alles auflöst? Wie die Töne und Farben durcheinanderfliessen? Ich könnte vergehen vor Glück.»

Er strahlte. Er schien in dem, was er sah, aufzugehen, so sehr liess er sich hinreissen von der Abendsonnenstimmung. Ich machte mir Sorgen. Was, wenn er sich darin verlor, wenn er vor Freude und Lust den Verstand verlor?

Eine alte Frau ging vorbei, die eine Bürde Holz trug. Sie schaute uns mit klugen Augen an. 

Das brachte Bob auf den Boden zurück. 

Trocken und ohne Übergang sagte er:

«So und jetzt gehe ich nach Hause und schreibe eine schöne Geschichte. Du weisst ja, eine dieser Geschichten, in der das Wort schön vorkommt, und die Wörter leise und gemütlich und wenn möglich gebrauche ich heute auch den Ausdruck golden angehaucht. Er lachte.

 

Ich stand da mit offenem Mund. 

Noch hatte ich mir Sorgen gemacht und mich gefragt, was es bedeutet, wenn da einer plötzlich Stimmen hört und seine Sinnesempfindungen durcheinandergehen, weil alles auf ihn eindringt, ungefiltert. Und er nur noch Stimmung ist, Empfinden.

Und nun war alles nur Literatur? Nur schöne Worte? Ein Spaziergang durch die Sprache? 

Aber er hatte recht. Ich hätte daran denken sollen.

Seit er wieder in Biel war, schrieb er laufend solche Geschichten, in denen einer sich auflöst im Abendsonnenempfinden. Wie hatte ich das vergessen können!



Meistens kommt da einer von einem Hügel herab in eine Ebene, in der ein Fluss fliesst oder ein Dorf oder eine Stadt liegt. Und während er alles betrachtet, wohlwollend und gemächlich, überkommt ihn ein Empfinden. Scheint er sich in der Natur aufzulösen. Gestalten werden sichtbar, unsichtbar, Stimmen hörbar unhörbar. Töne werden zu Farben und Farben zu Gerüchen. Das Land um ihn her beginnt zu schwimmen und zu schimmern, Himmel und Erde sind kaum noch zu unterscheiden. Die Dinge beginnen zu singen und zu reden. Das Land wird ein Lied und das Lied ist zum Sterben schön. Er selbst meint zu vergehen. Fast glücklich kehrt er jeweils zurück in eine Stadt, in seine Wohnung, an seinen Ausgangspunkt.

Wo er sich dann hinsetzt und Sätze schreibt wie:

Die Häuser machten so tiefsinnige Gesichter. /  Mir war, als hätte der schöne Abend ein eigenes Auge, womit er mich betrachtete, und einen Mund, mit dem er zu mir rede.  /  Ein Abendsonnenempfinden zog mit mir den Fluss nach, welcher in einem goldenen Wehmut-Entzücken schwamm.  /  Leise, frohe Gedanken schienen mir durch den Wald nachzuschleichen.  /  Ich stand und horchte. Plötzlich befiel mich ein unnennbares Weltempfinden. Das junge Frühlingsgrün erschien mir wie ein grünes Feuer. Blau und Grün ergossen sich in einen zusammentönenden Klang.

 

Sie können das alles nachlesen in der Kurzprosa, die Robert Walser um 1915 schrieb. Zum Beispiel in: Kleiner Streifzug, Naturstudie, Abendgang, Abendspaziergang, Reisebericht, Die Nacht, die Stadt, Am See, Das Frühjahr.