Kleine Welt – Grosse Welt



Jeden Tag dasselbe: Aufstehen, Kaffee trinken, Zeitungslesen und aus dem Fenster schauen, ob es etwas gibt, das mich auf einen Gedanken bringt oder zwei, was schon genügt für eine Geschichte.

Und tatsächlich, ich beginne über den Gerbeweg nachzudenken, warum der wohl so heisst, obwohl hier kein Mensch mehr irgendwem oder irgendwas die Haut abzieht, um dann daraus Schuhe zu machen. Nicht einer von uns, der sich damit beschäftigt. Aber was bleibt uns übrig, die wir im Gerbeweg leben, wir müssen mit dem Namen leben, wir wohnen nun mal nicht in der Lilienstrasse oder am Rosenweg. 

Gerber ist heute ein Name, so wie Koch. Aus einem Beruf entstanden. Aber wie muss man sich das vorstellen: Hiessen früher alle Köche Koch und alle Gerber Gerber? Wie hat man sie dann auseinandergehalten? Der rote Gerber, der hinkende Gerber, der stinkende Gerber?

Jetzt kommt mir aber in den Sinn, dass die Gerber nicht irgendwem oder irgendwas die Häute abgezogen haben, das taten die Schächter oder Abdecker oder die Metzger. Die Gerber haben die Häute nur gebleut, also darauf eingedroschen, daher der Ausdruck – jemandem das Fell gerben, das heisst grün und blau schlagen.

Vorher werden sie die Häute in ein Laugenbad gesteckt haben, mit Kot von Hühnern (scharf) und Pisse von Pferden (Harnsäure). Damit sie weich werden und das letzte Fleisch und Fett abgefallen ist. Woher ich das weiss? Ich weiss es nicht, ich denk mir das jetzt alles nur aus. 

 

Also wie man sieht, die Geschichte nahm Fahrt auf, und wenn sie einmal Fahrt aufgenommen hat, nimmt die Sprache ihren eigenen Weg, man muss ihr nur folgen. 


Hape. Vor der Tür.


Aber da meldete sich eine meiner inneren Stimmen – denn ich glaube, ich habe mehrere davon – und sagte:

• Du kannst doch nicht immer nur davon erzählen, was vor deiner Nase passiert, was ist da schon los, auf was für Gedanken wirst du da schon kommen. Ganz schön enge Weltsicht, die du da hast, würde ich sagen, sagte die Stimme.

Zuerst musste ich leer schlucken, ist klar, aber dann sagte ich:

• Würde ich nicht sagen: Ich habe einen Balkon auf der Süd- und einen Balkon auf der Nordseite und Glasfaseranschluss habe ich auch. Und überhaupt: Jede Welt ist doch heute mit jeder verbunden.

 Ja aber trotzdem landest du immer bei deinem Gerbeweg. Der Gerbeweg ist doch nicht der Nabel der Welt, ich glaube es war dieses Mal die Stimme, die für meinen Ehrgeiz verantwortlich ist, die sprach.

• Was meinst du mit der Nabel der Welt, fragte ich. Ich wusste gar nicht, dass die Welt einen Nabel hat. Und ist der Nabel überhaupt wichtig? Mein Nabel zum Beispiel ist überhaupt nicht wichtig, ich kann gut ohne ihn leben. 

 Ja, du mit deinen Witzen, aber auf grosse Gedanken wirst du so nicht kommen, für grosse Gedanken musst du hinaus in die Grosse Welt. 

• Das habe ich schon versucht, früher einmal, aber jedes Mal, wenn ich dort ankam, wo die Grosse Welt war, war sie auch dort ziemlich klein. Und ob du es glaubst oder nicht, sagte ich zu meiner Stimmen, das brachte mich auf den Gedanken, dass es so etwas wie eine Grosse Welt nicht gibt.

 Das liegt an deinem Kleingeist, sagte meine innere Stimme, die meinen Ehrgeiz vertrat. Weil du sie zu deiner kleinen Welt machst mit deinen kleinen Gedanken.

• Aber Moment mal, sagte ich, meine Gedanken sind doch auch deine Gedanken, du bist doch meine innere Stimme. Wie kannst du dir andere Gedanken machen, als ich sie mir mache. 

 Lenk jetzt nicht ab, sagt meine innere Stimme, deine Welt ist nicht meine Welt, und deine Gedanken sind nicht meine Gedanken, denn wäre es so, würden wir dieses Gespräch nicht führen. Und schon gar nicht über unsere Gedanken streiten.

 

Ich bekam es mit der Angst zu tun. Wohin sollte mich dieses Gespräch noch führen. Ich wollte doch nur aus dem Fenster schauen, mal sehen, was da los ist, und jetzt stecke ich mitten in einer existentiellen Krise.