Hopsergasse



Da ist mir doch letzte Nacht Folgendes passiert.

Ich war unterwegs in der Stadt, alles war wie gehabt, da war die Multergasse, der Marktplatz, die Metzgergasse. Dann aber bog ich um eine Ecke und war – wie das in Träumen ja möglich ist – von einem Moment auf den andern an einem völlig anderen Ort. 

Und der hatte es in sich. Die Menschen waren auf altväterliche Art gekleidet, trugen schwere Schuhe und schwere Kleider, unförmige Jacken, Hüte. Es gab Häuser, die ich zu kennen glaubte, und Plätze, an denen ich schon einmal war, aber sie verwandelten sich fortwährend, nahmen ein immer groteskeres Aussehen an.

Ich geriet in eine Kirche, voll von düsteren Menschen. Ein Priester, der auf einer Kanzel über der schwarzen Masse thronte, stiess Drohungen aus, führte Hetzreden. Die Stimmung in der Menge veränderte sich, wurde bedrohlich. Ich wurde von einer jungen Frau am Ärmel aus der Kirche gezogen und durch enge Gassen an die Peripherie der Stadt gebracht, wo sie mit ihren Kindern lebte. Das Ganze lief darauf hinaus, dass sie wie ich einer Lebens- und Glaubensgemeinschaft angehörte, die nur am Rande der Gesellschaft schlecht und recht geduldet wurde. Aber ich konnte auch bei ihr nicht bleiben. Ich lief weiter und geriet in ein Gassengewirr, das immer enger wurde. Schliesslich kam ich auf einen Weg aus gestampfter Erde, der unter die Erde führte. Ich fand mich in einem dunklen Tunnel- und Höhlensystem wieder, aus dem mich erst das Aufwachen befreite.



Das oder etwas Ähnliches habe ich also in der letzten Nacht geträumt. Man weiss ja nie, wieviel man beim Aufschreiben dazu dichtet. Aber die Kirchenszene kam vor und das Gassengewirr, das unter der Erde endet. Und die bizarre Architektur, von der ich nicht sagen kann, woher ich sie kenne, ob ich sowas im wachen Leben schon mal gesehen habe. Was weiss man schon. Die Bauten hatten etwas Hochaufstrebendes, die Fassaden waren mit seltsamen mir unbekannten Tiergestalten verziert, fantastisches Getier mit flachgedrückten Köpfen und langen Hälsen, die Augen gross und wimpernlos, alles in Stein gehauen. Dann aber waren Teile der Stadt auch wieder aus Holz gebaut, die Häuser ineinander geschachtelt, auch sie mit schwindelerregenden schiefen Aufbauten und Verstrebungen. Die Plätze davor waren mit groben Kopfsteinen besetzt und menschenleer, dann wieder von Menschen überflutet. Schon seltsam. Oder auch nicht. Wenn man weiss, dass ich am Tag zuvor in der Sankt-Galler Geschichte 2003 gelesen. Im dritten Band, der von der frühen Neuzeit handelt. 


Aushebung einer nächtlichen Täuferversammlung. Unten die Zuhörer, in der Mitte drei Prediger, oben die Büchsenschützen der Stadt.

Aus: St. Galler Geschichte 2003, Band 3, Seite 24.


So um 1500 war da einiges los.

Los waren zum Beispiel die Reformatoren, die aufrührerische Reden führten. Und respektlos waren wie die Heiden. Pfarrer Dörig vom Hemberg zum Beispiel schrieb 1524 an das Bistum Konstanz folgenden Brief: «Was ich dir schuldig sei, du Erzschalk, kann und will ich dir jetzt nicht schreiben, da ich anderes zu tun habe.» Und dann ein paar Zeilen weiter: «Hast du vergessen, wie du mit dem langen Hurenwirt (=Bischof von Konstanz) unchristlich wider göttlichen Befehl mit euren teuflischen Vorschriften mir mein Gut geraubt?»

Potz Blitz und Donnergrollen!  

Ein Donnergrollen war für die alte Ordnung auch das, was 1529 im Münster vor sich ging, als der Rat beschloss, die Götzen (Statuen) zu entfernen. «Bereits hatte sich viel Volk mit Werkzeugen im Gotteshaus versammelt und auf ein Zeichen Vadians hin begann das Zerstörungswerk. Die Leute griffen die Götzen an. Man riss sie von den Altären, Wänden und Säulen. Die Altäre wurden zerschlagen, die Götzen mit Äxten zerscheitert oder mit Hämmern zerschmettert: Du hettest gemeint es geschehe eine Feldschlacht. Wie war ein Getümmel, wie war ein Brechen und Tosen im hohen Gewölbe» Nach zweieinhalb Stunden waren alle wertvollen Kunstwerke zerschlagen. 46 Fuder mit Trümmern hölzerner Götzen wurden auf dem Brühl verbrannt.»


Bildersturm im Kloster (Alt) St. Johann 1528. Rechts die traditionelle Ordnung: Abt und Mönche beten und singen am Altar vor dem Marienbild. Links die Revolte: Bauern stürmen das Gotteshaus, stürzen einen Flügelaltar  um und entfernen ein Gemälde. Aus: St. Galler Geschichte 2003, Band 3, Seite 27.


Zu der Szene mit der Frau, die mich wegbringt aus der Kirche, könnte vielleicht die Hopsergasse passen. Dort wohnten die «Haiden» und Zigeuner. Dort war auch das Frauenhaus, was damals etwas anderes bedeutete als heute. Unter Haiden kann man sich allerhand verstehen, Gesindel, Lumpenpack, Nichtgläubige oder Andersgläubige. Oder Wiedertäufer. Auch die sorgten für Unruhe in der Stadt. Liessen sich nichts sagen, glaubten, was sie wollten, gingen eigene Wege. Von denen gab es in jener Zeit viele. Zu viele, wie die Obrigkeit fand. Auch sie respektlos wie Vandalen! Als ein obrigkeitlicher Hauptmann einen Tauf- und Bibelgottesdienst auflösen wollte, begegneten sie ihm mit «schändlich üppigen und unflätigen Worten». Und als er sich auf die Obrigkeit berief, sagten sie: «Sie hätten keinen Herrn noch Oberen ausser Gott, desgleichen sei das Erdreich, auf dem sie standen, Gottes und wir sollten hinweg oder sie wollten uns hinweghelfen.» 

Einer ihrer Prediger, Johannes Krüsi, wurde dann, wen wundert’s, abgeführt und in Luzern verbrannt. 

Und dann gab es noch die Juden. Die waren wieder zurückgekommen in die Stadt, nachdem 1349 die meisten von ihnen getötet worden waren, vielleicht sogar alle, man weiss es nicht so genau. Das war nicht so schön, aber auch nicht so schlimm, denn der Kaiser erteilte Absolution, ich nehme an für Geld. Wo die Juden später gewohnt haben, weiss ich nicht, aber 1349 wohnten sie in der hinteren Brotlauben. In einem der verlassenen Häuser hat dann die Familie von Watt gewohnt. Einer ihrer Söhne, Vadian, war dann vor Ort, als die Kirchen geplündert wurden, sie oben. Ich kann mir allerdings denken, dass er das nicht gut fand, aber es heisst ja: wo gehobelt wird, fallen Späne. Und es fielen und fallen immer wieder Späne, meistens sind auch Menschen darunter.